Nukleare Abschreckung ist "Glücksspiel"

  18 Februar 2018    Gelesen: 616
Nukleare Abschreckung ist "Glücksspiel"
Die Gefahr eines Atomkriegs ist so groß wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Zwischen den USA und Russland droht ein neues Wettrüsten. Deutschland muss sich den Vorwurf gefallen lassen, sich dabei aus seiner Verantwortung zu stehlen.
 

An einem Samstagvormittag Mitte Januar bekommen die meisten der 1,5 Millionen Bewohner Hawaiis dieselbe SMS: "Ballistische Rakete im Anflug", heißt es darin. "Bringen Sie sich sofort in Sicherheit. Dies ist keine Übung." Menschen brechen in Panik aus, sie fürchten, dass ihr Leben in ein paar Minuten vorbei ist.

Rund einen Monat später weiß die Welt: Der Alarm war die Folge einer Fehleinschätzung eines schlampigen Mitarbeiters. Doch die Angst vor einem Atomkrieg ist plötzlich so präsent wie seit Zeiten des Kalten Krieges nicht mehr.

"Wir haben die Existenz von Atomwaffen fast vergessen", sagt Beatrice Fihn von der Organisation ICAN, die sich für die Abschaffung von Atomwaffen einsetzt und dafür im vergangenen Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Den Vorfall auf Hawaii nennt sie einen "Weckruf".

Fihn sitzt auf dem Podium der Münchener Sicherheitskonferenz und beschreibt, wie die Menschen gedacht hätten, der Alarm sei echt - weil die politische Lage auf der Welt ihn real erschienen ließ. Fihn fordert ein internationales Verbot von Atomwaffen.

Mehr als 100 Staaten der Vereinten Nationen haben sich bereits auf so einen Vertrag geeinigt. Fihn glaubt, dass er, wenn er auf einem noch breiteren und stärkeren Fundament steht zu einer derartigen Ächtung von Atomwaffen führen würde, dass es zumindest eine Hoffnung auf die Zerstörung der gigantischen Bestände auf der Welt gäbe. Mit Chemiewaffen hätte das zumindest schon soweit funktioniert, dass kein Staatschef der Erde es mehr wagt, ihren Einsatz zuzugeben.

Die neun Atommächte und eine Reihe weiterer Staaten machen bei dem UN-Vertrag aber nicht mit. Derzeit wirkt es sogar eher so, als würde eine atomwaffenfreie Welt wieder in weitere Ferne rücken. Denn die Spannungen zwischen den Mächten mit Nukleartechnik ist so groß wie lange nicht. Und das bei weitem nicht nur, weil Nordkorea nuklear aufrüstet.

Kommt das Arsenal aufs Schlachtfelt?


Die USA unter Präsident Donald Trump drohten als Reaktion auf Nordkorea mit der Auslöschung des Kim-Regimes. Aktuell sind die Töne aus Washington angesichts der harmonischen Winterspiele in Südkorea etwas milder. Doch sie setzen auf "maximalen Druck" bis Nordkorea einlenkt und glaubhaft Abschied von seinem Nuklearprogramm nimmt. Erst dann könne es zu Verhandlungen kommen.

Nebe Nordkorea ist der Umgang mit dem Iran wieder ein wachsendes Problem. Teheran hat in einem International vermittelten Abkommen genau das getan, was die USA von Nordkorea fordern und seine Programme eingestellt. Washington will hingegen aus dem Abkommen aussteigen. Trump traut der Führung des islamischen Staates nicht. Doch sollte das Abkommen scheitern, könnte der Iran sein Atomprogramm wieder hochfahren.

Die jüngste Entwicklung ist die Veröffentlichung der neuen "Nuclear Posture Review" (NPR) der USA. Dabei handelt es sich um ein 75 Seiten starkes Kompendium über die Nuklear-Strategie der Supermacht. Laut Fihn hat Washington darin die Schwelle zum nuklearen Einsatz gesenkt. Sie sieht darin sogar den Ansatz Atomwaffen aus den Arsenalen tastsächlich auf das Schlachtfeld zu bringen.

Die USA setzen neuerdings auf die Entwicklungsogenannter „Low-Yield-Weapons“ - besonders kleine, taktische Atomwaffen mit geringer Wirkung. Die Logik dahinter: Die Wirkung der existierenden Atomwaffen sei derart verheerend, dass klar sei, dass die USA sie kaum einsetzen würden. Zur Abschreckung vor Angriffen mit kleineren nuklearen Waffensystemen nützen sie daher nicht mehr.

Die USA unter Trump fürchten, dass etwa Russland die Strategie der "Eskalation zur Deeskalation" nutzen könnte. Demnach würde Moskau einen beschränkten nuklearen Angriff anordnen, auf den die USA mit ihren Riesenbomben nicht angemessen reagieren könnten, weil sie damit einen alles auslöschenden Atomkrieg auslösen würden.

Die USA haben im neuen NPR zudem zusätzliche Szenarien für den Einsatz nuklearer Waffen implementiert - allen voran Cyberangriffe, die die Infrastruktur des Landes stören.

"Entspannter Umgang beim Erstschlag"


Die Entwicklungen lösen Besorgnis aus in der Welt, insbesondere in Russland. "Der NPR hat bei uns eine Menge Fragen entstehen lassen", sagt Sergey Kisljak, der stellvertretende Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des russischen Föderationsrats. "Die USA scheinen jetzt einen sehr entspannten Umgang beim Erstschlag mit Atomwaffen anzunehmen."

John Sullivan, der stellvertretende Außenminister der USA, spricht von einem "Missverständnis". Der neue NPR senke die Schwelle für den Einsatz von Nuklearwaffen nicht. Das US-Arsenal nicht zu modernisieren, würde es tun.

Sullivan wiederholt ein halbes Dutzend Mal, dass es sich allein um einen Schritt der Abschreckung handele. "Wir sind transparent", sagt er. Und er wünsche sich, dass Russland und China das ebenfalls wären. Sullivan wirft dem Kreml vor, gegen den sogenannten INF-Vertrag zu verstoßen. Das Abkommen verbietet den Einsatz und die Produktion nuklearer Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite bis zu 5500 Kilometer. Russland, so sehen es die USA, nehme damit Europa als Geisel. Kisljak bestreitet die Vorwürfe. Das Misstrauen, so scheint es, ist unendlich groß. Auf der Sicherheitskonferenz geht es im Gespräch zwischen dem Amerikaner und dem Russen keinen Millimeter voran.

Eine Milliarde Hungertote


Beatrice Fihn von ICAN ist geschockt, wie abstrakt auf der Tagung über das Problem gesprochen wird. Und auf der Sicherheitskonferenz führt tatsächlich niemand aus, was der Einsatz von Atomwaffen für die Menschen und die Menschheit bedeuten würde. Die "Zeit" beschrieb dabei schon kurz vor der Konferenz in einem Dossier ausführlich die aktuellen Erkenntnisse der Klimaforscher. Demnach führe schon ein regional begrenzter Atomkrieg, zum Beispiel zwischen Indien und Pakistan, zu einen lang anhaltenden nuklearen Winter auf der ganzen Welt - blockiertes Sonnenlicht, Temperaturstürze, ruinierte Landwirtschaft, eine Milliarde Hungertote. Dazu Unruhen und womöglich neue Kriege.

Fihn wirft den Atommächten mit ihren Strategien rund ums Eskalieren und Deeskalieren, um taktische Atomwaffen und Einsatzdirektiven vor, in einer Fantasie-Welt einer unfehlbaren Logik der Abschreckung zu leben. In dieser Welt gebe es nur rational handelnde Politiker und Systeme, die Fehlerfrei funktionierten. Davon könne aber keine Rede sein, sagt Fihn. Die Strategie der gegenseitigen Abschreckung nennt sie ein "Glücksspiel", dass die Menschheit auf Dauer unweigerlich verlieren wird.

Die Bundesregierung nimmt in diesem "Glücksspiel" eine besondere Rolle ein. Das Auswärtige Amt reagierte besorgt auf den neuen NPR der USA: "Die Entscheidung der US-Regierung für neue taktische Atomwaffen zeigt, dass die Spirale eines neuen atomaren Wettrüstens bereits in Gang gesetzt ist", heißt es in einer Stellungnahme. "Wie in Zeiten des Kalten Krieges sind wir in Europa besonders gefährdet." Das Auswärtige Amt plädiert dafür, neue Initiativen für Rüstungskontrolle und Abrüstung zu starten. Sie bekennt sich, wie so viele Staaten zum Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Konkret wird die Regierung aber nicht.

Auf deutschen Boden sind unterdessen weiterhin amerikanische Atomsprengköpfe stationiert. Und dem Vertrag zum Verbot von Kernwaffen hat auch die Bundesregierung noch nicht unterzeichnet. Zumindest gemäß des Koalitionsvertrags der neuen Großen Koalition in spe ist das auch auf absehbare Zeit nicht vorgesehen. "Solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im Strategischen Konzept der Nato eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben", heißt es darin. "Erfolgreiche Abrüstungsgespräche schaffen die Voraussetzung für einen Abzug der in Deutschland und Europa stationierten taktischen Nuklearwaffen." ICAN wirft CDU, CSU und SPD vor, sich mit vagen Formulierungen aus der Verantwortung zu stehlen.

Quelle: n-tv.de


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