Es schien, als habe sich die Weltöffentlichkeit schon daran gewöhnt. Seit Jahren wütet der Krieg in Syrien, ein Gräuel löst das nächste ab: Ganze Ortschaften werden belagert, ausgehungert, ausgelöscht, Kliniken und Schulen zerbombt. Hunderttausende sind ums Leben gekommen - und all das wird meist mehr oder weniger hilflos von der Weltöffentlichkeit beobachtet. Doch als am 7. April in Duma bei einem mutmaßlichen Giftgasangriff einige Dutzend starben, gab es einen Aufschrei über den Zivilisationsbruch und die USA, Frankreich und Großbritannien bombardierten syrische Ziele.
Woran liegt es, dass die einen Bomben hingenommen, die anderen aber geächtet werden? Ganz so, als gebe es einen Unterschied beim Töten, als gebe es gute und böse Bomben? "Dem Opfer ist es egal, ob es erschossen wird oder im Giftgas erstickt", sagt der Linken-Politiker Jan van Aken, der von 2002 bis 2004 Biowaffen-Inspekteur der Vereinten Nationen im Irak war. "Der Tod ist bei einem Bauchschuss genauso grauenvoll wie durch Sarin."
Und doch verbreiten Angriffe mit Chemiewaffen psychologisch ein ganz anderes Grauen. "Das ist richtiger Terror", so van Aken. Natürlich ließe sich auch mit Flächenbombardierungen und Fassbomben die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen. Bei Chemiewaffen reiche allerdings bereits eine aus, um eine ganze Stadt zu terrorisieren.
Hinzu kommt noch eine besondere Eigenschaft der Chemiewaffen, die diese besonders schrecklich macht: Das Töten ist unsichtbar. Sie sind eine Waffe, gegen die man sich schwer schützen kann. "Wenn in Duma geschossen wird, kann man sich im Keller vor den Bomben noch verstecken, aber das Gas sickert auch in den Keller ein", so van Aken. Und greife dann auch noch die Ersthelfer an.
Kein Unterschied zwischen Kämpfern und Zivilisten
Im Gegensatz zu Bomben oder Drohnen, die von den Militärs gerne als zielgerechte Waffen dargestellt werden, töten Chemiewaffen vollkommen unterschiedslos. Ob Soldat, Rebell, Greis oder Kind - Giftgase unterscheiden nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten. Dabei gilt gerade der Schutz der Zivilbevölkerung als eine der zentralen Regeln im Krieg.
Aus Sicht derer, die Giftgas einsetzen, gibt es neben dem Grauen durch einen solchen Angriff noch mehrere Vorteile. Im Gegensatz zu Atomwaffen sind sie sehr viel einfacher herzustellen. Deshalb gelten sie im Militär auch als die Atomwaffen des armen Mannes und wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder eingesetzt, auch von terroristischen Gruppen. Außerdem ist es, wie die derzeitigen Diskussionen in Syrien zeigen, möglich, den Einsatz abzuleugnen oder ihn anderen in die Schuhe zu schieben.
Der Schrecken, den Chemiewaffen verbreiten, ist dabei auch historisch bedingt. Wie der Konfliktforscher Thorsten Bonaker von der Universität Marburg sagt, wecken sie Assoziation an die Gräuel des Ersten Weltkriegs sowie an Vergasungen und andere grausame Tötungsarten. "Das schwingt meiner Ansicht nach auch in den öffentlichen Reaktionen mit, vor allem, wenn man sich die entsprechenden Bilder dazu ansieht", sagt er.
Tatsächlich trat die grauenhafte Wirkung von Chemiewaffen erstmals im Ersten Weltkrieg zutage. Im April 1915 setzten die Deutschen großangelegt in Ypern an der Westfront Giftgas ein. Aus 5730 Stahlflaschen wehte flüssiges Chlor Richtung Frankreich. Rund 1000 Soldaten starben sofort, Tausende wurden verletzt. Es war der Auftakt zu einer neuen Art des Tötens: Schätzungen zufolge starben Zehntausende Soldaten im Ersten Weltkrieg direkt durch Giftgas, mehrere Hunderttausend litten an den Spätfolgen. Sie wurden zu Invaliden, die blind oder mit verätzten Lungen irgendwie zu überleben versuchten.
"Willkürliche und bigotte Unterscheidung"
"Die Gräuel waren nach dem Ersten Weltkrieg tief im Bewusstsein der Bevölkerung und der Politiker verankert", sagt Gerald Kirchner vom Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung der Universität Hamburg. Unter anderem deshalb kam es schließlich 1925 zum Genfer Abkommen, das den Gebrauch chemischer und biologischer Waffen verbietet. Die Ablehnung von Chemiewaffen hatte wohl auch etwas mit einem militärischen ritterlichen Ethos zu tun, so Kirchner. Was im Rahmen des Militärs als nicht akzeptabel galt, wurde auch als nicht humanitär angesehen.
"In den letzten 100 Jahren wurden allerdings andere Waffen entwickelt, deren Folgen ebenso monströs und gruselig sind wie die von Chemiewaffen", so Kirchner. "Wenn Landminen in Form von Kinderspielzeug hergestellt und verstreut werden, dann kann man absolut nicht mehr von Humanität reden." Die Unterscheidung zwischen chemischen und bestimmten konventionellen Waffen hält er für "willkürlich und bigott". Für ihn wäre daher folgende Schlussfolgerung logisch: "Dies spricht aus meiner Sicht dafür, auch diese Waffen zu ächten."
Auch van Aken spricht von einer "Doppelmoral" und glaubt, dass letztlich jede Art von Waffenexport verboten werden sollte. Jedoch betont er, dass das Grauen im Falle von Massenvernichtungswaffen noch einmal eine ganz andere Qualität habe als konventionelle Waffen. "Deshalb ist es auch richtig, dass es bei dieser Ächtung bleibt. Wenn wir jetzt Chemiewaffen wie Fassbomben behandeln würden, die ja genauso oder noch tödlicher für Zivilisten sein können, würde es dauerhaft dazu führen, dass sie wieder alltäglich werden im Krieg." Und dann würden solche Bomben nicht nur gelegentlich eingesetzt, sondern wie im Irak-Iran-Krieg in den 1980er-Jahren gleich zehntausendfach. "Das ist dann eine ganz andere Qualität von Krieg."
Quelle: n-tv.de
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