Die Begründer des Karlspreises der Stadt Aachen - eine kleine Gruppe konservativer Politiker, Professoren und Unternehmer - legten 1949 die Kriterien für ihre Auszeichnung fest: "Die Fortschritte der Menschheit sind immer von einzelnen genialen Persönlichkeiten ausgegangen", schrieben sie. Nur an solche Personen sollte ihr Preis gehen.
Kann Emmanuel Macron diese Erwartung erfüllen?
Der französische Präsident wird am Donnerstag in Aachen viel Lob einstecken, wenn er den diesjährigen Karlspreis erhält - nicht zuletzt von Angela Merkel. Die Kanzlerin persönlich hält die Laudatio. Dabei könnte es Macron jedoch bald wie dem ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama mit seinem Friedensnobelpreis ergehen.
"Macron läuft Gefahr, ein europäischer Obama zu werden", sagt der Pariser Außenpolitik-Experte Dominique Moisi, Berater des Französischen Instituts für Internationale Beziehungen (IFRI). "Überall bereitet man ihm die Bühne für große Reden, vor kurzem in Washington, jetzt in Aachen. Doch dabei steigt das Risiko, dass den Worten keine Taten folgen", sagt Moisi.
Schon Obama hatte "Hoffnung" und "Wandel" versprochen und damit auch außerhalb der USA viele Menschen begeistert. Doch im Laufe seiner Amtszeit machte sich vielerorts Enttäuschung breit. Bis heute muss sich Obama immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, den Nobelpreis noch in seinem ersten Jahr als Präsident überhaupt nicht verdient zu haben.
Vorschläge abgewiesen und ignoriert
Ähnlich wie Obama wird auch Macron für seine Reden und Versprechen geehrt. Vor allem für sein Versprechen, Europa demokratischer und handlungsfähiger zu machen. Damit gewann er vor einem Jahr den französischen Präsidentschaftswahlkampf. "Für eine neue europäische Souveränität" lautete der Titel von Macrons jüngster Rede im April im Europa-Parlament.
Doch Europa ist seit Macrons Amtsantritt vor einem Jahr nicht nachweisbar souveräner geworden. Sein Vorschlag, eine schnelle europäische Eingreiftruppe aufzustellen, wird in Deutschland trotz aller nationalen Aufrüstungspläne nicht ernsthaft diskutiert. Sein Plan, die Eurozone mit einem eigenständigen Haushalt auszustatten, wurde vom neuen deutschen Finanzminister Olaf Scholz ziemlich unverblümt abgewiesen. Und seine Idee, ein Erasmus-Programm für Lehrlinge und andere Nicht-Akademiker aufzulegen, hat in Europa bislang kaum Wiederhall gefunden.
Umso mehr mutet der Karlspreis heute aus Sicht französischer Beobachter wie eine von Deutschen gestellte Falle für den eigenen Präsidenten an: Die Kanzlerin lässt Macron in Aachen vor allen Kameras hochleben, um ihn anschließend in Brüssel ungestörter auflaufen lassen zu können. Und Macron, der große Bühnen liebt, fällt prompt auf das Spiel herein - so sehen es einige in Frankreich.
Bilanz durchwachsen
Vergangenes Jahr habe Aachen den Karlspreis an den Briten Timothy Garton Ashvergeben, also "an die, die uns mit dem Brexit verlassen", betont Außenpolitik-Experte Moisi. Heute gebe die Stadt den Preis an einen Franzosen, also "an die, denen wir nicht folgen". Man könne sich die Preisverleihung auch aus Schuldbewusstsein und Zerknirschung deutscher Europa-Freunde erklären, sagt Moisi.
Tatsächlich fällt Macrons außenpolitische Bilanz nach einem Jahr im Amt durchwachsen aus. Zweifellos haben seine ambitionierten Reden zur Verteidigung Europas und der Demokratie Frankreich neues Gehör beschert. Geholfen hat auch seine zuweilen entschiedene Kritik gegenüber US-Präsident Donald Trump und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Konkrete Erfolge aber sind selten.
Eine Ausnahme war der gemeinsame Raketenangriff mit den USA und Großbritannien auf syrische Chemiewaffenlager. Eine andere die neue europäische Entsendungsrichtlinie für Arbeitnehmer innerhalb der Europäischen Union, die Sozialdumping erschwert. Beide Male setzte Macron die Akzente. Echte Fortschritte waren das trotzdem nicht.
Rivalität mit der Kanzlerin
Stattdessen konnte Macron einen anderen Eindruck nicht vermeiden: "Zwischen Präsident und Kanzlerin tritt nach und nach eine Art Rivalität um die Führerschaft in Europa und außerhalb Europas zu Tage", schreibt die Pariser Tageszeitung "Le Monde". Die aufeinanderfolgenden Besuche Macrons und Merkels Ende April in den USA, so die Zeitung, hätten diesen Eindruck noch verstärkt - auch wenn beide nun den Ausstieg der USA aus dem Iran-Abkommen gleichermaßen kritisieren.
"Der französische Präsident und die deutsche Kanzlerin haben nicht überall gleiche Interessen", kommentiert "Le Monde". Eigentlich eine Binsenweisheit, doch Macron war vor einem Jahr auch angetreten, um die gemeinsamen Interessen mit Deutschland zu betonen.
Warum Macron den Karlspreis erhält, liegt vermutlich genau daran: Kein französischer Präsident seit General Charles de Gaulle, der 1963 mit Konrad Adenauer den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag initiiert hatte, ging so offen und erwartungsvoll auf die deutsche Politik zu wie Macron. Kaum eine der daheim von ihm angestoßenen Reformen kam ohne deutsches Vorbild aus. Keine seiner großen Reden ohne ein Wort an die "deutschen Freunde".
Da fiel es dann doch auf, als Macron kürzlich zum einjährigen Amtsjubiläum ein zweieinhalbstündiges Fernsehinterview gab, ohne Deutschland auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Vielleicht beschleicht mittlerweile auch ihn das Gefühl, dass ihm seine Reden, sein Auftreten alleine nicht allzu viel bringen - außer den Karlspreis.
spiegel
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