Schockiert waren auch die amerikanischen „Kolonien“, die rein geografisch in Europa liegen und davon träumen, irgendwann in die EU aufgenommen zu werden. Vor diesem Hintergrund ist die jüngste Äußerung des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker so gut wie unbemerkt geblieben, der sich laut einem unbestätigten Bericht der „Daily Mail“ dafür ausgesprochen haben soll, „die USA zu ersetzen“. Zugleich warf er Washington angeblich vor, Möglichkeiten für ein konstruktives Zusammenwirken mit anderen Ländern zu zerstören.
In seiner jüngsten Rede im regionalen Parlament von Flandern kritisierte Juncker das Vorgehen des US-Präsidenten Donald Trump und Washingtons Außenpolitik im Allgemeinen:
„Mit Stand von heute sollten wir die USA ersetzen – und deshalb langfristig auch ihren Einfluss.“ Der EU-Kommissionschef präzisierte nicht, wie er sich diesen Prozess vorstellt, den nach seinen Worten die EU übernehmen sollte. Er nannte aber den wichtigsten Grund, warum die aktuelle Situation nicht mehr erträglich sei: "Washington zerstöre die konstruktiven Beziehungen Brüssels mit anderen geopolitischen Akteuren „mit einer erstaunlichen Grausamkeit“.
Man sollte die Bedeutung der offiziellen Position des EU-Kommissionspräsidenten nicht unterschätzen, denn das ist immerhin das wichtigste Exekutivgremium der Union, und es vertritt die Interessen der EU in der WTO und der G7. Juncker selbst ist ein sehr einflussreicher Politiker, der viele Jahre lang an der Spitze der EU-Gruppe stand und vor seinem EU-Engagement sehr lange Finanzminister und Premier Luxemburgs gewesen war – der wichtigsten Steueroase innerhalb der Alten Welt. Damit verkörpert er quasi die Einflusskraft der europäischen Geschäftskreise auf die europäischen Machthaber und ist zudem der größte Lobbyist der Interessen der reichsten europäischen Familien, denen viele Großunternehmen gehören. Noch mehr als das: Gerade Juncker war der Co-Autor des Maastrichter Vertrags, entsprechend dem die EU gegründet wurde. Damit ruft einer der „Gründungsväter“ der Europäischen Union sein „Kind“ offen auf, die Gunst der Stunde, wo Washington seine globale Einflusskraft allmählich verliert, auszunutzen und „die USA zu ersetzen“.
Diese Äußerung ist ein klarer Beweis dafür, dass die Geschäftskreise und auch ein wesentlicher Teil des Establishments der Alten Welt auf antiamerikanischen Positionen stehen und darauf bestehen, dass die EU den USA geopolitisch intensiver gegenwirkt. Übrigens betrachtet Trump die Europäer nicht als Verbündete, sondern als ein Problem für Washington. Nicht umsonst erklärte er unlängst, dass die EU dafür gegründet worden sei, um „die USA auszunutzen“ und „von den USA zu profitieren“.
Viele Anhänger des US-Präsidenten warfen den Europäern mehrfach vor, diese seien „undankbar“ und wollten ihre Sicherheit, für die die USA angeblich stehen, nicht angemessen bezahlen. Gerade im Kontext dieser Rhetorik fordert Trump von Deutschland und allen anderen Europäern, Beiträge in Höhe von zwei Prozent ihres BIP an die Nato zu überweisen, was nicht mehr und nicht weniger als 350 Milliarden Dollar jährlich ausmachen würde. In Europa lassen sich viele diesen getarnten „Raubüberfall“ nicht gefallen. Angela Merkel weigert sich konsequent, eine solch „hübsche“ Summe zu zahlen, und bestätigte ihre Position bei ihren jüngsten Verhandlungen in Washington. Solche Situationen wurden in Übersee immer eindeutig bewertet: Entweder wurde der „Schuldner“ zur Kasse gezwungen – oder hatte der „Unabhängigkeitskampf“ des jeweiligen Landes Erfolg. Aus den Aussagen Merkels, die Europäer sollten ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, kann man eindeutig schließen: Die deutsche politische Elite hat ihre Wahl schon getroffen.
Es ist unwahrscheinlich, dass jemand von den EU-Spitzenpolitikern, auch der „ewige“ EU-Optimist Juncker, wirklich die USA als globaler Hegemon ersetzen könnte und auch will. Die Alte Welt hat weder Lust darauf noch die Kraft dafür. Beim „Ersetzen der USA“ geht es um etwas anderes, nämlich um den ewigen Streit darüber, wer der wahre Führer der so genannten „freien Welt“ ist. Und in diesem Kontext hat die EU tatsächlich gewisse Chancen, von der „Schwäche“ der Amerikaner zu profitieren. Die europäische Währung wurde ursprünglich eben als Konkurrenz für den Dollar eingeführt, und aktuell ist der Euro tatsächlich die einzige internationale Währung, die dem Dollar einen Teil des globalen Marktes wegnehmen konnte. Es wäre auch durchaus realistisch, zu erklären, dass die USA verrückt geworden seien und dass die einzige Hochburg der wahren Demokratie und des wahren Liberalismus Brüssel sei. Und viele in der Welt würden daran auch glauben. Die EU hat vorerst keine starken Streitkräfte, aber Merkel setzt schon den Plan Junckers zur Gründung einer „EU-Armee“ um, während sich Experten der einflussreichen US-amerikanischen Zeitschrift „Foreign Policy“ noch 2017 beklagt hatten, Deutschland würde „geheim eine europäische Armee unter seinem Kommando gründen“.
Die EU bleibt noch in drei Aspekten anfällig, was die Möglichkeiten des Teils der europäischen Elite wesentlich beschränkt, der an der absoluten Unabhängigkeit interessiert wäre. Erstens ist die EU von innen gespalten: Dort gibt es einige Staaten, die auf Kosten Brüssels leben, sich aber nur Washington unterstellen (Polen, die Baltikum-Länder, Rumänien und Bulgarien). Vor dem EU-Ausstieg Großbritanniens, das der wichtigste US-„Wächter“ in der Alten Welt war, schien die Aufgabe zur Unifizierung der Außen- und Innenpolitik unlösbar zu sein. Jetzt aber ist die Situation anders, und Brüssel könnte durchaus auf die Formel zurückgreifen: „Wer Washingtons Interessen voranbringt, bekommt kein Geld“.
Die zweite Schwäche der Europäer liegt im Bereich der Energiewirtschaft. Die EU ist im Grunde eine große „Industriezone“, aber sollte man den Strom abschalten, würde die europäische Industrie zusammenbrechen. Gerade deshalb bringen Berlin und die größten europäischen Energiekonzerne trotz aller Proteste in Washington den Bau der Pipeline Nord Stream 2 voran. Gerade deshalb investierten die Europäer beträchtliche Mittel in den iranischen Ölsektor, und gerade deshalb wären die Europäer bereit zu einem Konflikt mit den USA und Israel in der „iranischen Frage“.
Und die letzte Schwäche besteht in der ausbleibenden einheitlichen EU-Außenpolitik. Ihre Abschaffung beobachten wir gerade jetzt: Brüssel, Berlin und Paris traten gemeinsam gegen die USA im Kontext des Irans und des von Trump ausgerufenen „Handelskriegs“ gegen Europa und China auf. Wenn diese Einheit sich gegen den Druck der Amerikaner behauptet, wären die Perspektiven der Europäer im Kampf um ihre Unabhängigkeit ziemlich groß. Für Russland ist die europäische „Revolte“ gegen Amerika eine sehr gute Nachricht. Ohne russisches Öl und Gas kommt ein freies und souveränes Europa nicht infrage. Ohne den Zugang zur russischen Logistik und zu den Verkehrswegen nach China würde der europäische Handel immer anfällig bleiben. Und in jeder Hinsicht wäre es für Russland gut, wenn sich Europa auf seine Konflikte mit den USA fokussieren würde, denn dann wäre die Verhandlungsfähigkeit Berlins und Brüssels gegenüber Moskau ziemlich groß. Besonders wenn es um die Beschränkung der geopolitischen Einflusskraft der Amerikaner geht.
sputnik.de
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