Ganz Europa gackert mit Israel

  13 Mai 2018    Gelesen: 1249
Ganz Europa gackert mit Israel

Der Eurovision Song Contest in Lissabon schreibt Geschichte. Weil das Jury-System wieder mal ad absurdum geführt wird. Weil ein Flitzer die Show aufmischt. Weil Israel die Hühnerleiter bis zum Sieg hinauf kraxelt. Und weil Michael Schulte Deutschland erlöst.

 

The winner takes it all. Und der Gewinner des Eurovision Song Contests (ESC) 2018 heißt tatsächlich Israel. Viele, darunter auch die so häufig zitierten "Buchmacher", hatten das schon lange prophezeit. Doch kurz vor dem Showdown in Lissabon kamen dann plötzlich doch noch einmal Zweifel auf, ob der israelische Durchmarsch auch wirklich gelingen würde.


Unbegründete Zweifel: Sängerin Netta, die wie eine Kreuzung aus Gossip-Sängerin Beth Ditto, Finnen-Popperin Alma und der deutschen Rapperin Miss Platnum daherkommt, gackert sich mit ihrem Song "Toy" an sämtlicher Konkurrenz vorbei zum Sieg. Das wiederum passt wie die Faust aufs Auge zum Zeitgeist. Besser als mit Zeilen wie "Look at me - I'm a beautiful creature" ("Schau mich an - ich bin ein wunderschönes Geschöpf") und "I'm not your toy, stupid boy" ("Ich bin nicht dein Spielzeug, dummer Junge") könnte man "Bodyshaming"-Diskurse oder die "MeToo"-Debatte wohl kaum in einen Songtext gießen.

Ein Hühnchen hätte Netta jedoch vielleicht auch mit manchem aus der nationalen Jury zu rupfen. Und nicht nur sie. Die angeblichen Fachleute scheinen sich bei ihrer Punktevergabe nämlich nicht selten jenseits von jedem Zeitgeist, jeder Originalität und jedem Publikumsgeschmack zu bewegen.

Ein neues ESC-Flitzer-Kapitel

So landen nach dem Jury-Voting erst einmal die Beiträge aus Österreich und Schweden auf den Plätzen 1 und 2. Der eine Song, "Nobody But You" vom Österreicher Cesár Sampson, kommt zwar durchaus mit einer gewissen Qualität, scheint zugleich aber ein Stück weit beim Superhit "Human" von Rag 'n' Bone Man abgekupfert. Der andere, "Dance You Off" des Schweden Benjamin Ingrosso, wirkt dagegen so rückwärtsgewandt, dass man glauben konnte, man befände sich mit Kool And The Gang auf einer Saturday-Night-Fever-Party. Erst die Abstimmung der Zuschauer rückt das gerade. Würden nur sie entscheiden, würde Österreich auf dem 13. statt in der Addition der Jury- und Publikumspunkte am Ende auf dem 3. und Schweden auf dem viertletzten statt auf dem schließlich 7. Platz landen.

Die beiden absoluten Favoritinnen der TV-Zuschauer - neben der Israelin Netta ist das noch das Beyoncé-Double Eleni Foureira aus Zypern mit "Fuego", die in der Endabrechnung auf dem 2. Platz landet - gehören auch in der Lissaboner Altice Arena zu den am meisten umjubelten ESC-Stars. Für noch größeres Aufsehen als die beiden Damen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, sorgt für einen Moment wohl nur der Mann, der während des Auftritts der Britin SuRie mit "Storm" auf die Bühne rennt und nach dem Mikrofon der Sängerin grapscht.

Die Fernsehzuschauer bekommen das nur für den Bruchteil eines Augenblicks mit. Der Flitzer wird jedoch womöglich noch lange darüber grübeln, ob er einen sonderlich klugen Einfall hatte, so humorlos wird er in Windeseile im Schwitzkasten von der Bühne geschleift. Die ESC-Verantwortlichen sind nach bereits diversen Vorfällen dieser Art in der Vergangenheit schließlich leidgeprüft und verstehen da offensichtlich gar keinen Spaß. Der Störer mag sich nun damit brüsten, mit in die unrühmliche ESC-Flitzer-Geschichte einzugehen. SuRie jedoch hat er den wahrscheinlich größten Moment in ihrer musikalischen Karriere verdorben.

Tausende beim Public Viewing


Schauplatzwechsel: Stimmungsmäßig geht es auch im "Eurovision Village" auf dem nahe der Tejo-Bucht gelegenen Praça do Comércio hoch her. Vor dem Beginn des ESC-Finales bilden sich vor den Eingängen lange Schlangen, die bis in die Seitenstraßen reichen. Im Zentrum der portugiesischen Hauptstadt stockt der Autoverkehr oder kommt zeitweise zum Erliegen. Die Einheimischen nehmen das mit stoischer Gelassenheit hin.

Bevor um 20 Uhr Ortszeit die Eurovisionshymne ertönt, ist das Public-Viewing-Areal proppevoll. Man muss auf das Besorgen von Getränken verzichten, soll der mühsam erworbene Stehplatz nicht gefährdet werden. Die Menschen kommen sich auch im körperlichen Sinne näher. So manche Landes- oder Regenbogenfahne wedelt einem im Gesicht herum. Die Ukrainerin Ruslana, die den Contest 2004 in Istanbul gewann, ist als Einheizerin verpflichtet worden - ihr damaliger Siegertitel "Wild Dances" darf natürlich nicht fehlen. Über drei Monitore können die Tausenden Anwesenden die Übertragung der ESC-Entscheidung verfolgen.

Die Auslosung von Ruslanas Landsmann Mélovin an den Beginn des Events erweist sich als Glücksfall. Als der 21-Jährige aus Odessa seinen Song "Under The Ladder" performt, wird bereits an einigen Stellen getanzt. Laut bejubelt wird auch Australiens Jessica Mauboy. Richtig ab geht die Post auch hier bei Siegerin Netta und ihrer ärgsten Konkurrentin Eleni Foureira, die für Einzel-, Paar- und Gruppentänze auf dem Platz sorgt.

Auch in Lissabons Restaurants und Bars herrscht reges Treiben. Eine kleine Gaststätte ist fast vollständig von Norwegern und Dänen gekapert. Fast jeder Zeitgenosse aus Deutschlands nördlichem Nachbarland hat einen Wikingerhelm auf - Rasmussen mit "Higher Ground" verpflichtet eben. Eine Straße weiter feiern Briten, Dänen und Niederländer zusammen. Wenn das Premierministerin Theresa May sehen könnte - vielleicht bliese sie den Brexit doch noch in letzter Sekunde ab.

Michael Schulte genießt den Moment

Zurück in die Altice Arena: Hier hat Deutschlands ESC-Hoffnung Michael Schulte ein schweres Los. Und das hat an sich nichts mit seinem elften Startplatz zu tun, sondern damit, dass er nur kurz nach dem Flitzer-Zwischenfall auf die Bühne muss. Doch der 28-Jährige lässt sich nichts anmerken - und schmettert sein "You Let Me Walk Alone" wie schon in den Proben souverän ins weite Rund. Dass Schulte nicht zuletzt hier ist, um den Moment zu genießen, kann man sehen, als er sich nach getaner Arbeit im sogenannten "Green Room" ins Sofa plumpsen lässt. Er winkt den deutschen Fans im Publikum zu, filmt fleißig alles mit dem Handy und wirkt gelöst und entspannt - egal, was auch bei der Punktevergabe kommen mag.

Das, was dann da tatsächlich kommt, hatte wohl auch er sich nicht in seinen kühnsten Träumen ausgemalt - auch wenn er in den vergangenen Tagen vom kompletten Außenseiter auf einmal zum Geheimfavoriten aufgestiegen war. Von allen Seiten hagelt es Punkte. Und in seinem Fall sind sich die Jurys, die ihn auf dem 4. Platz sehen, und die Zuschauer, bei denen er als Sechstbester abschneidet, sogar einigermaßen einig. In der Summe bleibt es bei Platz 4. Das ist nicht nur das beste deutsche Ergebnis seit Lenas Sieg 2010 in Oslo. Schulte gelingt auch, woran nach all den Pleiten, dem Pech und den Pannen in den vergangenen Jahren schon kaum noch jemand zu glauben wagte: Deutschland beim ESC aus dem Tal der Tränen zu führen.

Als die Lichter in der Halle bereits längst ausgegangen sind, stellt sich der Buxtehudener mit einer Deutschlandfahne über den Schultern noch einmal den Journalisten. "Viel besser könnte es mir nicht gehen", strahlt er über das ganze Gesicht. "Mein Traum war es in die Top 10 zu kommen. Das haben wir mehr als geschafft - Platz 4. Und ein weiterer Traum war, einmal 12 Punkte aus irgendeinem Land zu bekommen. Jetzt haben wir viermal 12 Punkte und mehrere Male 10 Punkte." Michael Schulte kann, will und braucht seinen Stolz nicht zu verbergen.

"Nichts als Liebe"


Doch die größte Aufmerksamkeit gebührt natürlich Siegerin Netta, die sich in der Pressekonferenz nach ihrem Triumph noch einmal bejubeln lassen darf. "Ich feiere mich selbst" und "Ich muss einfach nur ich sein", erklärt sie. Da müsse sie gar keine weitere Botschaft unters Volk bringen. Dass eine Mehrheit der Menschen für sie gestimmt hat, spreche für sich.

Darüber, dass zu diesen Menschen jedoch wohl nicht Vorjahressieger Salvador Sobral gehört, der ihr Lied als "schrecklich" bezeichnet hatte, kann sie im Moment ihres Triumphs locker hinwegsehen. Auf die Kritik des Portugiesen angesprochen, sagt sie: "Ich sende ihm nichts als Liebe."

Was bleibt also vom ESC 2018? Ein wummernder Dance-Song folgt einer schmachtenden Ballade auf den Thron. Israel liegt als Gastgeber des Wettbewerbs im kommenden Jahr in Europa. Und Deutschland kann allen Unkenrufen zum Trotz eben doch besser abschneiden als nur auf dem letzten oder vorletzten Platz. So ist er halt, der ESC.

Quelle: n-tv.de


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