Syrien: Was will Russland wirklich?

  29 September 2015    Gelesen: 635
Syrien: Was will Russland wirklich?
Allein die Tatsache, dass Präsident Putin mitten während der Ukrainekrise wieder vor der UN-Vollversammlung spricht, ist, wie Friedrich Schmidt auf FAZ Online herausstellt, ein Sieg des russischen Präsidenten und der russischen Regierung. Es ist auch ein Erfolg, den die Leitmedien im Westen ihm nicht gönnen.

Der russische Präsident konterkariert (nicht zum ersten Mal) erfolgreich das offizielle Narrativ der westlichen öffentlichen Meinung. Nicht nur, dass er stur und nachhaltig den syrischen Präsidenten al-Assad unterstützt, den blutdürstigen „Tyrannen“, der „sein eigenes Volk mit Krieg überzieht“ und „mit Fassbomben bewirft“ – mit seinem jüngsten Schachzug zwingt Putin die westliche Phalanx sogar in den gemeinsamen Kampf mit dem noch größeren Gegner IS.

IS in Syrien: perfekt aufbereitete IS-Videos

Beim westlichen Publikum hat er damit vergleichsweise leichtes Spiel. Nach Afghanistan und dem Irak glauben viele Menschen es nicht mehr, wenn Medien und Politiker in einem Nahostkonflikt die eine Seite als gut und demokratisch herausstellen, die andere dagegen als böse und Menschenfresserin am eigenen Volk. So viel weiß man inzwischen über Bürgerkriege, dass in ihnen alle Parteien letztlich ihre eigenen Landsleute bekämpfen. Wer immer Zugriff auf Chemiewaffen und Fassbomben hat, setzt sie im Zweifel – jedenfalls im Zustand äußerster Bedrohung – auch ein.

Hinzu kommt, dass die für das Medienzeitalter perfekt aufbereiteten Videos der IS-Massaker so grausam sind, dass die Aufnahmen der Opfer eines Fassbombenangriffs dagegen verblassen. Und im Medienzeitalter machen Bilder den Unterschied. Nicht ohne Kalkül begleitet der IS seine Filmproduktionen mit einem enormen Aufwand. Die potentiellen Anhänger sollen beeindruckt sein von seiner Macht und seiner Stärke, die potentiellen Opfer sollen mit umso mehr Furcht und Grauen in sich kriechen.

Zahllose Experten tun auf allen Kanälen ihre Ratschläge kund, online und offline. Die einen glauben, deutsche oder französische Luftangriffe machten den Unterschied. Die anderen raten, kurdische Kämpfer auszubilden und auszustatten – natürlich nicht, ohne vorher höflich in der Türkei um Erlaubnis zu bitten. Und sie werben dafür, „nicht-islamistische syrische Sunniten“ für diesen Kampf stark zu machen. So etwa der Mitarbeiter der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik, Guido Steinberg. Dann habe man wenigstens mehr als „nur kurdische Verbündete im Land“.

Lebenserfahrung in deutschen Bibliotheken

Der Glaube, unser westliches Kriegsglück auf den Schultern „kurdischer Verbündeter“ und „nicht-islamistischer syrischer Sunniten“ gut aufgehoben zu sehen, zeugt von viel Lebenserfahrung in deutschen Bibliotheken und wenig an der nahöstlichen Front. Auch der junge amerikanische Politologe Mark Adomanis liegt mit seiner Analyse falsch. Westliches militärisches Engagement, so schreibt er in der englischsprachigen Moscow Times, werde nach aller Erfahrung der letzten 20 Jahre auch in Syrien ergebnislos bleiben. Dies gelte auch für das jetzt beginnende Engagement der Russen. Kyrillische anstatt lateinischer Buchstaben auf den Kampfflugzeugen und Panzern machten keinen Unterschied.

Wenn die Russen mit ihrem Engagement dasselbe Ziel vor Augen hätten wie die USA und der Westen, träfe Adomanis‘ Schlussfolgerung ins Schwarze. Was sind die strategischen Ziele des Westens, zumindest gegenüber der internationalen Öffentlichkeit: Niederringen des IS, Sturz und Ablösung des alawitischen (pro-schiitischen) Präsidenten Baschar al-Assad durch „nicht-islamistische syrische Sunniten“, freie Wahlen in einem wiederhergestellten Syrien in den Grenzen von 1916, Sieg der Demokratie, der Menschenrechte und der Freiheit.

Was die westeuropäischen Politiker (der Öffentlichkeit gegenüber jedenfalls) verschweigen, ist die reale Interessenverteilung in der Region. Tatsache ist, dass außer Künstlern, Studenten und Intellektuellen sowohl die Politiker als auch die breite Masse dort an Demokratie, Menschenrechten und Freiheit ebenso wenig interessiert ist wie an Mädchenschulen und Soldaten, die Brunnen bauen. Im Zentrum der Politik steht eine einzige Kraft: der schiitische Iran. Seine Rückkehr auf die internationale Bühne nach fast 40 Jahren sorgt für erhebliche Beunruhigung unter den Eliten auf der Arabischen Halbinsel und in der Türkei. Der brachial-sunnitische IS, der sich wie ein Riegel zwischen dem Nahen und Mittleren Osten etabliert, kommt daher nicht nur diesen Mächten, sondern auch den USA durchaus zupass.

Türkisch-iranische Rivalität


Westlich des IS-Gebiets, in den heutigen Staaten Syrien und Libanon, existieren allerdings starke pro-schiitische Kräfte. Da ist einmal die syrische Volksgruppe der Alawiten, die bis heute den ihr angehörenden Präsidenten Assad und die syrische Elite trägt und stellt. Da ist zum zweiten die libanesisch-schiitische Miliz Hisbollah, die seit Jahren vom Iran unterstützt und als Instrument im Konflikt mit Israel eingesetzt wird. Diese Kräfte, allen voran Assad und seine Alawiten, sind der Türkei, Saudi-Arabien und den Emiraten ein Dorn im Auge. Das ist der Hintergrund des syrischen Bürgerkriegs, das ist die Wurzel des hunderttausendfachen Sterbens und der millionenfachen Flucht.

Das Auftauchen des IS, der nicht einmal mehr die Spielregeln eines Bürgerkriegs anerkennt, war nicht vorgesehen. Dennoch dürfen wir sicher sein, dass weder die USA noch Westeuropa sich in der Region mit Bodentruppen engagieren werden – das Maximum werden Luftangriffe, Drohnen und Spezialkommandos sein. Möglicherweise unternimmt auch Russland einige, zumindest gesichtswahrende Versuche in dieser Richtung. Die Wahrscheinlichkeit, dass dadurch der IS nennenswert zurückgedrängt wird, ist gering. Das Ergebnis dürfte dem entsprechen, was der Amerikaner Mark Adomanis prognostiziert.

Wenn Russland jetzt in der Provinz Latakia, dem Kernland der alawitischen Syrer, Militärbasen einrichtet, setzt es nicht darauf, die westliche Strategie zu verstärken. Vor der UNO in New York mag das noch der Tenor von Putins Rede sein, wird aber in der Realität bald keine Rolle spielen. Viel wahrscheinlicher als die Wiederherstellung eines einheitlichen syrischen Staates mit oder ohne al-Assad ist die Teilung des Landes in einen von Russland gestützten mehr oder minder säkularen, mehr oder minder pro-schiitischen Westen mit mehr oder minder großer Beteiligung der Alawiten an der Regierung – und einen IS-Staat, der die dünn bevölkerten Wüstengebiete im Osten beherrscht.

Was könnte Russland daran gelegen sein?

Zur Methodik der klassischen Außenpolitik gehört es, Rivalitäten durch Gleichgewichte zu stabilisieren und auszugleichen. Die zentrale, sich herausbildende nah- und mittelöstliche Rivalität ist die zwischen dem Iran und der Türkei. Eine zweite, schwächere, die zudem die Grenzen der Region überschreitet, ist die zwischen Russland und der Türkei, und eine dritte, noch schwächere, die zwischen Russland und dem Iran. Israel ist für alle muslimischen Staaten in der Region mehr Feind als Rivale.

Der Levante, also dem Dreieck Latakia-Damaskus-Libanon, kommt eine Schlüsselstellung zu. Als westlicher Außenposten iranisch-schiitischer Politik wirkt die kleine Region mäßigend auf alle Ambitionen der Türkei, ihre Einflusssphäre nach Süden zu erweitern. Das begrüßen sowohl der Iran als auch Russland. Beide werden Ankara beim Versuch einer Wiederbelebung der Außenpolitik nach osmanischem Muster Steine in den Weg legen.

Israel nicht abgeneigt

Die Präsenz in der Levante dient aber auch dem Gleichgewicht zwischen den Rivalen Russland und USA. Die hegemonialen Ansprüche der USA sind jahrzehntealt, aber der Hegemon schwächelt und hat im Nahen und Mittleren Osten an Ansehen verloren. Selbst in Israel dürfte man nicht abgeneigt sein, russische Streitkräfte auf syrischem Boden zu wissen. Aus Tel Aviver Sicht dient das nicht zuletzt dem Gleichgewicht mit dem syrischen Nachbarn – Stichwort Golanhöhen. Außerdem sind über eine Million Russlandstämmige – bzw. Sowjetbürger – nach Israel ausgewandert. Viele in Moskau wären froh, wenn ihr Land als Quasi-Schutzmacht des israelischen Staates – und der heiligen christlichen Stätten – in der Welt Anerkennung fände.

In Moskau werden Gedankenspiele, wie sie hier dargelegt sind, nicht offiziell von Politikern zu Protokoll gegeben. Geäußert werden sie von gut vernetzten Kommentatoren, die in ihrer Mehrheit – anders als im Westen – weniger von moralischem Wunschdenken als von realistischer und pragmatischer Einschätzung der politisch Beteiligten und ihrer Interessen geprägt sind.

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