Zum Tod von Christine Nöstlinger

  16 Juli 2018    Gelesen: 920
Zum Tod von Christine Nöstlinger

"Der Blick der Kinder entlarvt unsere Welt": Ex-Kanzlerkandidat und Buchhändler Martin Schulz über die Figuren Christine Nöstlingers und ihren ernsten Kampf um Integration und Anerkennung.

Unter den Figuren der Literatur, die Generation um Generation in ihren Bann ziehen, sind erstaunlich viele Kinder: Jim Hawkins in der Schatzinsel, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Bastian Balthasar Bux und die "kindliche Kaiserin", Alice im Wunderland genauso wie David Copperfield oder Pippi Langstrumpf. Kinder, die sich in "Erwachsenenwelten" bewegen, oder in deren Geschichten die Probleme der Erwachsenen auftauchen, sie haben die Weltliteratur geprägt.

Vielen Autoren wie Michael Ende, Astrid Lindgren oder eben Christine Nöstlinger, die Kinder in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen gestellt haben, ist damit etwas Wunderbares gelungen: Durch Kinderaugen haben sie uns geholfen, die Erwachsenenwelt neu kennenzulernen, weil sie oft ernster, ehrlicher, unverstellter und frei von Hintergedanken auf die Dinge sehen. Der Blick der Kinder entlarvt unsere Welt, mit ihren manchmal seltsamen Regeln und ihrer oft bizarren Logik. Der Kinderblick ist eigentlich der erwachsenere und oft auch der logischere. So lernen wir angeblich Großen einiges von den Kleinen. Über unsere Schwächen und Stärken, über unsere Realität und unser Glück, wie über unser Leid.

Eines dieser besonderen Kinder ist der kleine Franz Fröstl, aus Christine Nöstlingers Buchreihe "Geschichten vom Franz". Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich persönlich meinen Kindern aus den Geschichten vom Franz vorgelesen habe. Der kleine Franz ist dort zu Hause, wo auch Christine Nöstlinger lebte: Im den Arbeiterbezirken Wiens, wo es einfach und direkt heraus zuging. Wo Solidarität und Mitgefühl und gegenseitige Fürsorge noch selbstverständlich waren. Doch der kleine Franz hat ein Problem: Alle halten ihn für ein Mädchen, weil er blonde Locken und "einen Herzkirschenmund" hat.

Und so handelt seine Geschichte vom energischen Kampf eines Jungen, als Junge anerkannt zu werden. Einem Kampf, den Nöstlinger in ein humorvolles Hin und Her verwandelt, an dessen Ende das "Igitt" der vornehmen Nachbarsippe steht: Franz hatte zum Beweis seine Hose fallen lassen. Zwischen den Zeilen, die Kinder erfreuen und auch Erwachsene zum Lachen bringen, finden wir so einen ernsten Kampf um Anerkennung, darum ernst genommen zu werden, um das gleichberechtigte, vollwertige Dazugehören - kurzum: einen Kampf um Integrationoder Emanzipation.

Diese Art von Kampf, die der kleinen Franz auch zu Hause auf dem Hof, mit dem Bruder Josef um die Liebe von Mama und Papa führt, zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk Christine Nöstlingers: vom Gurkenkönig bis zum Maikäfer. Und auch die Botschaft, die damit verbunden ist, ist eine Konstante in ihren Werken: Dass man Mut braucht, um sich seinen Platz zu erkämpfen. Dass dies oft hart ist, weil die Welt nicht logisch und oft ungerecht ist. Dass es sich aber lohnt zu kämpfen, und dass da immer Menschen sein werden, die einen dabei unterstützen.

Astrid Lindgren schrieb ihre Bücher unter dem Motto "Niemals Gewalt". Christine Nöstlingers Werk könnte unter dem Motto stehen: "Immer Mut". Sie hat Generationen Mut gemacht und ihre Werke werden vielen weiteren Generationen Mut machen. Für mich, aber auch für meine heute erwachsenen Kindern hat der kleine Franz seinen Platz bei den anderen großen Kindern der Weltliteratur. Danke Christine. Und nun: "Maikäfer flieg".

spiegel


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