Am Montagabend passierte das, was türkische Ökonomen befürchtet hatten: Die Landeswährung der Türkei erreichte ein neues Rekordtief: Für einen Euro bekommt man nun sechs Lira. Vor zwölf Monaten, im August 2017, waren es noch vier. Seit Sommer 2016, seit dem Putschversuch in der Türkei, hat sich der Wert der Lira gegenüber dem Euro fast halbiert.
Besonders gefährlich am Kursverfall der Lira ist für die Türkei, dass er einhergeht mit einer immer stärker werdenden Inflation. Im Juli gab es die höchste Inflationsrate seit 2003.
Damals wurde die türkische Währung um sechs Nullen erleichtert. Die Denominierung Anfang 2005 war ein notwendiger Schritt nach drei Jahrzehnten Inflation. Kostete ein Adana-Kebab vor der Umstellung fünf Millionen Lira, bezahlten die Türken danach fünf dafür. Konsolidierungsmaßnahmen bremsten damals die Inflation und stabilisierten den Wechselkurs.
Heute sieht sich die Türkei wieder mit Inflationsraten wie im Jahr 2003 konfrontiert, in Verbindung mit massiven Wechselkursverlusten gewinnt die daraus entstehende Abwärtsspirale an Dynamik.
Eine hohe Inflation belastet den Wechselkurs, Investitionen werden gebremst. Der Kursverfall wiederum befeuert die Inflation. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum sind die Verbraucherpreise im Juli um fast 16 Prozent gestiegen. Insbesondere Importwaren werden spürbar teurer, die Verbraucher geben deswegen weniger Geld aus. Die hohen Wachstumsraten der Türkei in den vergangenen Jahren waren aber nur aufgrund einer sehr konsumfreudigen Bevölkerung möglich. Ohne Konsum kein Wachstum.
Erdogan braucht das Wachstum
Stoppen ließe sich die Inflation mit kontinuierlichen Zinserhöhungen. Die allerdings scheut Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, er möchte niedrige Zinsen. Günstige Kredite kurbeln die Wirtschaft an. Die politische Elite in der Türkei will nicht auf Wachstum verzichten.
Höhere Zinsen hingegen bremsen die Konjunktur. Ein notwendiges Übel, um eine nachhaltige und planbare Geldpolitik in der Türkei zu installieren, weiß Erdal Yalcin, Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Hochschule HTWG in Konstanz. "Die Verantwortlichen in der Türkei müssen entscheiden, was ihnen lieber ist: Höhere Zinsen und eine kontrollierte Rezession, oder weiterhin niedrige Zinsen und ein unkontrollierter Kollaps." Einem solchen Kollaps komme die schnell wachsende türkische Volkswirtschaft jeden Tag näher.
Dass Zinserhöhungen stabilisierend wirken können, war im Mai zu beobachten, als die türkische Zentralbank einen ihrer Leitzinsen von 13,5 Prozent auf 16,5 Prozent anhob. Der Verfall wurde gestoppt, die Lira gewann an Wert. Kurz danach ging sie allerdings schnell wieder auf Talfahrt. Die Skepsis der ausländischen Investoren bleibt.
Die Notenbank hatte mit der Zinserhöhung ein richtiges Signal gesendet, der Effekt allerdings ist verpufft. Die Türkei hat an den Finanzmärkten derart viel Glaubwürdigkeit verspielt, dass Rettungsversuche der Zentralbank wirkungslos bleiben. "Das wichtigste Charakteristikum einer Zentralbank ist ihre Glaubwürdigkeit und glaubwürdig ist sie nur, wenn sie von der Regierung unabhängig ist", sagt Alexander Kriwoluzky, Abteilungsleiter Makroökonomie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).
Ob das in der Türkei der Fall ist, halten Investoren für äußerst fragwürdig. Erdogan selbst befeuerte die Bedenken, als er vor der Präsidentschaftswahl in Aussicht stellte, als erstarkter Präsident stärkere Kontrolle auf die Notenbank auszuüben. Eine Zentralbank, die nicht unabhängig ist, verliert eine ihrer zentralen Eigenschaften: Das Lenken künftiger Preiserwartungen. Steigende Inflationsraten werden dann im Voraus miteinkalkuliert, Preise direkt erhöht. Die Inflation nimmt Fahrt auf.
Zweifel an der Unabhängigkeit der Zentralbank
Erdogans Politik ist für die Abwärtsspirale aus Inflation und Kursverlusten mitverantwortlich. Aus politischem Kalkül heraus will er das kurzfristige Wachstum anheizen - und schadet ihr damit langfristig. Seit Jahren höhlt er den Rechtsstaat aus, die Justiz lässt er gleichschalten. Warum also sollte Erdogan vor der Zentralbank Halt machen? Genau diese Frage stellen sich auch ausländische Investoren. Sie zweifeln an der Unabhängigkeit der türkischen Notenbank. Doch diese Zweifel sind Gift: Fehlt das Kapital aus dem Ausland, droht der Türkei, dass aus der Währungskrise bald eine umfassende Wirtschaftskrise wird.
Auch Erdogans außenpolitisches Gebaren ist einer Stabilisierung der Lira wenig zuträglich. Die jüngsten Spannungen zwischen den USA und der Türkei haben das Verhältnis beider Staaten weiter verkompliziert. Die Sanktionspolitik der USA hat eine Signalwirkung, die nicht zu unterschätzen ist. Zudem treffen US-Strafmaßnahmen die türkische Wirtschaft schon jetzt hart.
Die EU-Staaten hingegen gehen mit der Türkei deutlich behutsamer um. Die realpolitischen Antworten sind kaum mit denen der USA zu vergleichen. Das hat damit zu tun, dass Erdogan noch immer die Flüchtlinge von Europa fernhält. Zum anderen sorgen wirtschaftliche Interessen dafür, dass die EU ein Interesse daran hat, dass die Türkei stabil bleibt: Türkische Unternehmen sind bei europäischen Geldhäusern hochverschuldet. So hatten spanische Banken nach neuesten Daten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) Ende März rund 82 Milliarden Dollar in der Türkei im Feuer, französische Finanzinstitute kamen zum selben Zeitpunkt auf 38 Milliarden Dollar, bei deutschen Banken waren es rund 17 Milliarden Dollar.
Eine schwere Wirtschaftskrise hätte also Konsequenzen weit über die Türkei hinaus.
spiegel
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