Syriens Turkmenen zwischen Hoffnungslosigkeit und Selbstbehauptungswille

  06 Januar 2016    Gelesen: 3448
Syriens Turkmenen zwischen Hoffnungslosigkeit und Selbstbehauptungswille
Die Turkmenen-Region Bayır Bucak ist für zahlreiche Akteure im syrischen Bürgerkrieg von wichtiger strategischer Bedeutung. Während die Türkei die türkische Minderheit versucht zu schützen, betrachten Moskau, die al-Assad-Regierung und Kurden-Milizen Bayır Bucak als Hindernis bei der Erreichung von geopolitischen Zielen durch militärische Mittel. Eurasia News klärt über die Hintergründe der Region und die Eigenheiten der syrischen Turkmenen auf.


Die syrischen Turkmenen gehören zu jenen Minderheiten des Landes, die von den Folgen des seit 2011 tobenden Bürgerkrieges am stärksten betroffen sind. Die Hauptgründe dafür sind die breite geografische Streuung von Turkmenen-Siedlungen, ihre schwache Organisationsstruktur in sozialen, politischen und militärischen Fragen, ihre enge Beziehung zur wiederum institutionell, wirtschaftlich und militärisch starken Türkei, eine vergleichsweise geringe Bevölkerungsgröße und ihr Mangel an internationaler Vernetzung.

Eindeutige, verifizierbare und objektive Informationen über Syriens Turkmenen, die sehr enge ethnische und kulturelle Beziehungen zu den Türken Anatoliens und den Turkmenen des Iraks aufweisen, stehen der politischen Forschung gegenwärtig nur mangelhaft zur Verfügung. Im Zuge des Zusammenbruches des Osmanischen Reiches, welches von den Türken Anatoliens dominiert wurde, verloren die meisten Turkmenen Syriens größtenteils ihre sprachlichen Kompetenzen und ihre Identität, dafür wurden sie staatlich verordnet arabisiert. Dennoch machen diejenigen Turkmenen, die ihre Sprache und Identität zu erhalten wussten, vermutlich bis zu 1,5 Millionen syrische Bürger aus (rund 6,5 Prozent der Gesamtbevölkerung nach Erhebungen aus dem Jahr 2013, wonach die syrische Bevölkerung knapp 23 Millionen Staatsbürger umfasste). Trotz einer weitläufigen geografischen Streuung gibt es in den ländlichen Regionen der Provinzen Aleppo und Latakia entlang der türkischen Grenze turkmenische Besiedlungskonzentrationen.

Syrischer Bürgerkrieg revolutionierte unterdrückte Turkmenen

Von Beginn des Bürgerkrieges an haben sich die syrischen Turkmenen auf die Seite der sogenannten Freien Syrischen Armee, kurz FSA, gestellt. Bemerkenswert bezüglich der Turkmenen-Präsenzen in Syrien ist, dass sie oft in strategisch wichtigen und von der syrischen Armee, der Terrormiliz „Islamischer Staat“ und der kurdischen YPG-Miliz umkämpften Regionen beheimatet sind, was die türkische Minderheit enormen Druck aussetzt.

Da sich die syrische Regierung unter Präsident Baschar al-Assad offenbar dessen auch bewusst ist, dass sie nach mehr als vier Jahren Krieg nicht mehr die Kontrolle über ganz Syrien erringen kann, plant sie, sogenannte „Regierungszonen“ in dicht besiedelten, also strategisch bedeutenden Regionen einzurichten, die vor allem einen Zugang zum Mittelmeer ausweisen. Die Rolle Russlands indes beläuft sich auf die militärische und – so das Kalkül – die sich anschließende politische Konsolidierung der syrischen Regierung. Von al-Assad kontrolliertes Territorium soll dabei nach Möglichkeit expandiert werden.

Die angepeilte Regierungszone umfasst die Provinzen Latakia, Damaskus und Tartus sowie die westlichen Regionen von Hama und Homs. Der Distrikt Bayır Bucak in der Latakia-Provinz, wo Turkmenen die Mehrheitsbevölkerung bilden, ist bislang die größte Hürde für al-Assad-treue Truppen bei der Etablierung einer solchen Regierungszone. Auch die Bürger Bayır Bucaks unterstützten und bauten von Beginn des Bürgerkrieges an diverse oppositionelle Elemente auf, die sich bewaffneten. In der Mitte von 2012 begannen die Turkmenen schließlich, ihr Territorium autonom zu regieren. Zahlreiche Turkmenen flohen nichtsdestotrotz im Zuge von schweren Zusammenstößen mit Regierungstruppen, die aus der Luft und zu Boden angriffen, in die Türkei.

Turkmenen Schützling und geopolitischer Hebel Ankaras

Bayır Bucak ist nicht zuletzt auch für die Türkei, welche sich als historische Schutzmacht ihrer türkischen Minderheit in Syrien empfindet, von besonderer Bedeutung, allen voran aus sicherheitspolitischen Erwägungen. Das begründet, weil die Turkmenen-Region in unmittelbarer Nachbarschaft zur türkischen Grenze liegt und in dieser Region seit geraumer Zeit keine staatliche Autorität mehr vermochte, Präsenz oder sonstige Kompetenzen zu markieren. Aus geopolitischen Erwägungen strebt die Türkei eben eine nachhaltige Schwächung der al-Assad-Regierung und Stärkung oppositioneller Kräfte an, welche ausgenommen des syrischen PKK-Ablegers, PYD/YPG, Ankara gegenüber politisch wohlgesonnen sind.

Ein Fall von Bayır Bucak würde mit großer Wahrscheinlichkeit die militärische Balance in Idlib und Aleppo zugunsten syrischer Regierungstruppen verändern. Um die Nachschublinien zu unterbinden und die Turkmenen von der Türkei abzuschneiden, dürften al-Assad-treue Truppen, die auch Schiiten-Milizen aus dem Iran, Irak und dem Libanon umfassen, seit Beginn der Offensive auf Bayır Bucak versucht sein, die Grenzregionen unter ihre Kontrolle zu bringen. Eine solche Entwicklung dürfte Ankara auch in Zukunft aktiv zu unterbinden versuchen.

Turkmenen: Aus dem Osmanischen Reich ausgewanderte Türken

Die Turkmenen von Bayır Bucak sind Nachfahren des Karamanoğlu-Stammes. Sie siedelten sich teilweise noch zu seldschukischen (Aleppo) und schließlich osmanischen Zeiten, von Zentralanatolien und den Mittelmeer-Regionen kommend, in Syrien an. Zahlreiche Turkmenen-Dörfer existieren noch immer in der Türkei und ist nicht zuletzt der Grund, warum die Turkmenen von Latakia und andernorts nach wie vor enge Bande zu Anatolien pflegen.

Was Bayır Bucak so bedeutend für alle involvierten geopolitischen Akteure macht, ist die Tatsache, dass, wer auch immer die Region kontrolliert, perspektivisch auch den strategisch entscheidenden Zugang zum Mittelmeer gewinnt.

Sollte sich die syrische Opposition in der Region erhalten und ihren Einflass von Bayır Bucak auf das Mittelmeer hin ausweiten können, dann wäre die Organisation des logistischen Nachschubs einfacher und würde neue expansive Möglichkeiten eröffnen. Der Zugang zum Mittelmeer würde das militärische und politische Standing oppositioneller Milizen in Nordsyrien im Allgemeinen deutlich verbessern.

Kurdistan eingekesselt nicht überlebensfähig – Syrische PKK strebt langfristig nach Zugang zu Weltmeere

Die Konflitkparteien lassen sich im Falle Latakias nicht allein auf zwei Akteure reduzieren: Im Rahmen des syrischen Bürgerkrieges glaubt auch die Kurdenmiliz YPG daran, dass sich ein einmaliges Zeitfenster für die Gründung eines Kurdenstaates biete. Daher interessiert sich der syrische Ableger der sogenannten „Kurdischen Arbeiterpartei“, kurz PKK, die PYD und ihr militärischer Arm die YPG, ebenfalls perspektivisch für diese Region, da sie ihr Zugang zu den Weltmeeren über die al-Assad-Regierung ermöglichen könnte, wie türkische Syrien-Analysten vermuten. Dennoch, das dürfte ein langfristiges Ziel der Kurden-Organisation sein. Bayır Bucak ist die einzige Region Syriens, über die die syrische PKK das Mittelmeer erreichen ließe. Sollte die anhaltende Regierungsoffensive dazu führen, dass Turkmenen über kurz oder lang aus Bayır Bucak endgültig vertrieben werden, dann könnte ein Vordringen der YPG vom Kanton Efrin im Norden Realität werden.

Bayır Bucak ein Bollwerk der moderaten Opposition – Droht dennoch bald der Fall?

Trotz der geostrategischen Bedeutung von Bayır Bucak sind der al-Assad-Regierung gegenüber loyale Kräfte seit dreieinhalb Jahren nicht fähig, die Region von den lokalen Turkmenen-Milizen zu erobern. Die Opposition genoss in der Region einen besonderen Vorteil Dank der ausgeweiteten Einsatzregeln der türkischen Luftwaffe, die in eine mehrere Kilometer tief ins syrische Territorium hineinreichende de facto Flugverbotszone mündete. Dieser Umstand ergab, dass sich die syrische Luftwaffe – von den möglichen Folgen einer Bombardierung der Turkmenen durch die türkische Luftwaffe eingeschüchtert – zurückhielt, Luftangriffe gegen Positionen in Bayır Bucak zu fliegen. Die russische Luftkampagne in Syrien, die am 30. September 2015 begann, veränderte das Machtgleichgewicht in der Region letztlich doch zu Gunsten von Damaskus. Die russischen Militärkapazitäten und das damit einhergehende Abschreckungspotenzial ermöglichen seither der syrischen Luftwaffe mit russischer Unterstützung, in Bayır Bucak zu operieren.

In der Zwischenzeit sollte der türkische Abschuss eines russischen Bombers vom Typ Su-24 am 24. November 2015 in eben diesem türkisch-syrischen Grenzgebiet die Lage nochmal verkomplizieren. Die russische Luftwaffe überging seit Oktober mehrmals türkische Einsatzregeln. Auch wenn diese Entwicklung als unbeabsichtigt deklariert wurde, wird spätestens jetzt offensichtlich, dass russische Luftraumverletzungen und Luftangriffe in der turkmenisch geprägten Zielregion dazu dienten, die De-facto-Flugverbotszone der Türkei über Bayır Bucak aufzubrechen. Ankara scheiterte mit seiner Abschreckungsintention. Stattdessen führte der Abschuss der Su-24 zu noch aggressiveren russischen Angriffen auf syrische Rebellen-Ziele, die von der Türkei protegiert werden. Die Türkei wird seither zur Anerkennung einer neuen militärischen Realität angeführt von Russland gezwungen.

Abschuss des russischen Bombers führte zur Verhärtung russisch-türkischem Stellvertreterkrieg in Syrien

Der Abschuss des russischen Kampfflugzeuges durch die türkische Luftwaffe führte dazu, dass in noch weiter verstärktem Maße auf Bayır Bucak militärisch eingewirkt wird. Die Stellungnahmen aus Moskau in den letzten Wochen seit dem Abschuss waren äußerst konfrontativ und ließen den Schluss zu, dass Russland eine weitere Eskalation nicht ausschließe. Boden- und Luftoperationen in Latakia wurden verstärkt und die PYD/YPG, welche über die PKK historische Beziehungen zu Moskau pflegt, wurde – was sich offiziell nicht bestätigen lässt, aber zeitlich in Korrelation steht – ermutigt, gegen türkische Ableger in der Aleppo-Provinz vorzugehen, was sie rund um die Grenzstadt Azez, die Lebensader der pro-türkischen Rebellen, schließlich auch tat.

Diese Entwicklung hemmte die moderate Opposition in ihrem Kampf gegen den IS und die Regierungstruppen al-Assads in Aleppo erheblich, da sie unvermittelt in einen Dreifrontenkrieg gedrängt wurde.

Flugverbotszone zwischen Azez und Dscharablus nach Su-24-Abschuss undenkbar

Der russisch-türkische Zwischenfall im syrischen Grenzgebiet unterminierte schließlich auch die Etablierung einer von der Türkei angeführten Flugverbotszone entlang der Azez-Dscharablus-Linie in der Provinz Aleppo. Ankara fürchtet, dass Russland türkische Kampfjets, die über Syrien fliegen würden, nicht mehr dulden werde und diese womöglich gar bekämpfen könnte. Das Vakuum könnte stattdessen eine von Moskau dazu motivierte kurdische YPG füllen, die ihren dritten Kanton Efrin geografisch mit Kobane und Cizîrê verbinden will und damit Ankara von seinen oppositionellen Ablegern in Syrien abschneiden würde. Die YPG jedenfalls dürfte mit einem Vorstoß gen Westen von Kobane aus zumindest ihren nationalistischen Ansprüchen gerecht werden – welche die USA, dem wichtigsten Alliierten der Kurden Syriens, zumindest gegenwärtig aus Rücksicht vor dem NATO-Partner Türkei nicht gewillt sind, zu gewähren.

Anhaltende Operationen militärischer Art in Bayır Bucak führt zu neuen Flüchtlingswellen

Ein weiteres Risiko für die Türkei hinsichtlich der Kämpfe um Bayır Bucak sind neue Migrationswellen, die infolge der verstärkten Kampfhandlungen drohen. Bislang kontrollierten lokale Milizionäre die Turkmenen-Region. Die gebirgige Landschaft verhinderte in der Vergangenheit das Hochfahren von Großoffensiven auf Bayır Bucak. Stattdessen nehmen die syrische Armee und verbündete Schiiten-Milizen seit Oktober nun die Turkmenen-Berge unter konzentriertes Artillerie-Feuer. Die syrische und die russische Luftwaffe bombardieren die turkmenischen Rückzugsgebiete aus der Luft.

Ein bedeutender Teil der Turkmenen-Bevölkerung in Bayır Bucak hat Zuflucht in der Türkei genommen. Sie leben in einem eigens eingerichteten Flüchtlingscamp bei Yayladağı in der Hatay-Provinz. Sie haben die Möglichkeit bekommen, täglich in ihre wenige Kilometer entfernte Heimat nach Syrien zurückzukehren, um ein Auge auf Handel und Immobilien werfen zu können. Berichten zufolge sollen zahlreiche Turkmenen noch immer in den unwegsamen Bergdörfern Nordost-Latakias leben. Anhaltende Luftangriffe werden die humanitäre Situation jedenfalls verschlimmern und zur weiteren Evakuierung der Region führen. Mit der völligen Zerstörung der Turkmenen-Dörfer könnte eine Rückkehr der geflüchteten türkischen Minderheit in Zukunft fraglich sein.

Kampf um das Überleben: Turkmenen kämpfen für Syriens Vielfalt

Ein möglicher Fall von Bayır Bucak und die Vertreibung der lokalen Turkmenen-Bevölkerung stellen sich in eine lange Reihe der historischen Verfolgung der türkischen Minderheit in Syrien, angefangen 1967, als die israelische Armee die Golanhöhen Syriens besetzte. Die meisten Turkmenen der südsyrischen Region siedelten infolge nach Damaskus über. Die Turkmenen der Region Homs mussten ihre Heimat im Zuge des seit 2011 wütenden syrischen Bürgerkrieges beinahe komplett verlassen. So wurde Zara, die größte mehrheitlich von Turkmenen besiedelte Stadt in der Provinz Homs, von Regierungstruppen al-Assads seinerzeit völlig zerstört. Die Einwohner Zaras flohen daraufhin in den Libanon nach Akkar oder Baalbek, wo bereits seit Jahrhunderten eine turkmenische Minderheit siedelt. Im Nordosten Syriens verloren die Turkmenen der Stadt Tell Abyad ihre Heimat, als YPG-Milizen diese 2015 von der Terrormiliz IS eroberten. Sie wurden, wie ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International unterstreicht, regelrecht von den Kurdenmilizen aus der Stadt vertrieben. Satelliten-Bilder sollen beweisen, dass durch die YPG ganze Häusermeilen zerstört und dem Erdboden gleich gemacht wurden.

In den ländlichen Regionen der Provinz Aleppo, wo die meisten syrischen Turkmenen leben, werden der Osten vom IS und der Süden von Regierungstruppen besetzt. Die Turkmenen-Berge in Latakia sind das einzig verbliebene Rückzugsgebiet, in dem die Turkmenen des Landes noch unabhängig über ihr Schicksal entscheiden können. Der Fall der Berge dürfte frustrierende Folgen haben. Sollten die Turkmenen in der Region, welche mittlerweile auch von Milizen des Rebellenbündnisses Dschaisch il-Fatah (zu Deutsch: Eroberungsarmee) unterstützt werden, jedoch dem Druck standhalten, dürfte der Erfolg dazu beitragen, dass Turkmenen diese Entwicklung nicht nur als einendes und euphorisierendes Ereignis wahrnehmen, welches die nationale Identität der Minderheit weiter stärken würde, sondern auch geostrategische Auswirkungen auf Aleppo haben. Eine Frontkonsolidierung in Latakia würde Befreiungsoffensiven auf IS-Gebiete in der Provinz Aleppo begünstigen, vor allem entlang der Azez-Dscharablus-Linie, wo hunderttausende Turkmenen leben.


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