Manche hören die Brexit-Uhr schneller ticken als andere: Dazu gehört die britische Containerschifffahrt, die ihre Waren an weitentfernte Ziele verschifft. Während die meisten Unternehmen den 29. März als Datum für den gefürchteten chaotischen EU-Austritt Großbritanniens auf dem Schirm haben, ist die Frist für Brexit-Entscheidungen für die Exporteure auf der Insel laut Industrievertretern spätestens in gut einer Woche abgelaufen.
"Für viele Unternehmen sind es keine 50 Tage, der harte Brexit findet in neun Tagen statt", zitiert die Nachrichtenagentur Bloomberg Stephen Phipson vom Verband der produzierenden Industrie EEF. Denn nach seiner Rechnung werden Frachter, die nicht innerhalb der nächsten anderthalb Wochen in See stechen, erst nach dem 29. März an ihrem Ziel ankommen.
Ohne Brexit-Deal werden dann am Zielhafen die Zölle der Welthandelsorganisation (WHO) fällig. Das heißt, je knapper die Zeit, desto weniger können die Exporteure noch mit Sicherheit kalkulieren, ob sie mit ihren Waren auf der anderen Seite der Welt ein gutes oder aber vielleicht ein schlechtes Geschäft machen. Die politischen Ereignisse werden sie möglicherweise überrollen, während ihre Fracht auf hoher See ist. Sollten sie auf der anderen Seite angekommen nicht bereit sein, die neuen Zölle zu zahlen, und es keine neuen Abkommen geben, dürften die Schiffe mit ihren Waren direkt vor ihren Zielhäfen vor den Küsten Asiens stranden.
Auch andere Interessensgruppen haben laut des britischen "Guardian" bereits vor diesem Szenario gewarnt. Dazu gehören die Britische Handelskammer, der Industrieverband CBI sowie der Einzelhandelsverband British Retail Consortium (BRC).
Ein Wettlauf gegen die Zeit - und das Wetter
Nach ihrer Rechnung könnten schon die Schiffe, die dieses Wochenende in See stechen, ihre weit entfernten Ziele nicht mehr rechtzeitig erreichen. Fracht nach Japan per Schiff zu verschicken, braucht sechs Wochen Vorlaufzeit. Die maximale Zeit für eine Passage nach Australien oder Neuseeland beträgt 50 Tage. Eine entscheidende Rolle spielen dabei immer auch die Wetterverhältnisse.
Laut "Guardian" exportiert Großbritannien im Schnitt Waren im Wert von umgerechnet rund 5,7 Milliarden Euro pro Monat in die 60 Länder, die Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union (EU) haben. Nur ein Beispiel sind die Whisky-Lieferungen nach Südkorea. Jährlich liefert Großbritannien Whisky im Wert von umgerechnet gut 80 Millionen Euro. Laut CBI-Chef Ben Digby könnte Südkorea vergeblich auf die nächste Ladung warten. Bis die Situation zwischen den Ländern nach einem Chaos-Brexit geklärt ist, könnten die Flaschen vor der Küste viele Kreise ziehen.
Denn jede Flasche, die zu spät kommt, könnte mit zusätzlichen 20 Prozent Zoll zu Buche schlagen. Für die Exporteure, die jetzt ihre Waren auf die Reise schicken, ist es also ein Wettlauf gegen die Zeit.
Brexit ist nicht der einzige "schwarze Schwan"
Es sind die "schwarzen Schwäne", wie unvorhersehbare geopolitische Ereignisse genannt werden, die der Wirtschaft weltweit derzeit am meisten zusetzen. Dazu zählt nicht nur der Brexit, sondern auch der Handelsstreit zwischen den USA und China. US-Exporteure traf diese Hängepartie im vergangenen Jahr an diesem empfindlichen Punkt. Als es Zölle hagelte, waren viele Frachter bereits auf hoher See.
Für Schlagzeilen sorgte das US-Containerschiff Peak Pegasus, das im Juli auf dem Weg von Seattle nach Nordchina war. Der Kapitän sollte seine Fracht löschen, ehe die chinesischen Gegenzölle greifen würden. Nur, er kam dreieinhalb Stunden zu spät. Die Spielregeln zwischen den USA und China hatten sich geändert, und der Frachter mit seiner 20-Millionen-Dollar-Ladung Sojabohnen trieb einen Monat lang unverrichteter Dinge vor der chinesischen Küste.
Bei 12.500 Dollar Gebühren pro Tag für die Charter des Schiffes, wie der "Guardian" damals vorrechnete, war es billiger, auf See Posten zu beziehen, als die chinesischen Strafzölle an Land zu zahlen. Beim Löschen der Ladung wären sechs Millionen Dollar fällig geworden.
Unternehmen tappen im Dunkeln
Der britische Handelsminister Liam Fox versucht derzeit zwar unter Hochdruck, die EU-Handelsabkommen durch neue zu ersetzen. Aber wie weit die Verhandlungen gediehen sind, ist unklar. Die Unternehmen tappen völlig im Dunkeln, kritisiert der Industrieverband EEF, der die Interessen von 20.000 britischen Herstellern mit einer Million Beschäftigten vertritt.
Ohne entsprechende Informationen sind die Unternehmen gezwungen, ihre Schiffe ins Blaue zu schicken und ein wirtschaftliches Risiko einzugehen. Erreichen sie ihr Ziel nicht pünktlich, haben sie die Wahl: Sie können auf Zeit spielen und hoffen, dass es doch noch ein Handelsabkommen gibt. Sie können die Zeche für den ungeordneten Brexit in Form der höheren Zölle zahlen, oder sie können andere Häfen in der Welt ansteuern, wo ihre Waren - wenn sie nicht verdorben sind - vielleicht noch auf dem Markt zu bringen sind. Doch auch dieser Umweg könnte teuer werden.
So oder so werden die Unternehmen die Zeche für den Brexit zahlen. Ein chaotischer EU-Austritt wird es nur noch teurer machen. Gerade erst warnte die Bank of England, dass die britische Wirtschaft nicht für einen ungeordneten Brexit des Landes gerüstet sei. "Obwohl viele Unternehmen ihre Notfallplanungen verstärkt haben, ist die Wirtschaft als Ganzes weiterhin noch nicht vorbereitet auf einen übergangslosen Brexit ohne Abkommen", sagte Notenbankchef Mark Carney. Der "Nebel des Brexit" sorge für Unsicherheit.
Optimisten hoffen, dass die Zielländer Nachsicht zeigen und Lieferungen britischer Waren akzeptieren werden, wenn die Frist abgelaufen ist. Wahrscheinlicher scheint es zurzeit, dass die Signalhörner der gestrandeten Containerschiffe laut durch den Nebel tönen werden.
Quelle: n-tv.de
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