Donnerstagabend, 20:42 Uhr. In Saal eins des Palace in Lake Placid klatschen viele der etwa 150 Besucher. Auf der Leinwand des Kinos läuft der Abspann von "Miracle". Der Film erzählt die Erfolgsstory der US-Eishockey-Nationalmannschaft, die 1980 bei den Olympischen Winterspielen die eigentlich unbesiegbare Sowjetunion doch irgendwie 4:3 besiegte und zwei Tage später durch einen 4:2-Erfolg gegen Finnland Gold gewann. Das "Miracle on Ice" ist seitdem ein fester Begriff in den globalen Geschichtsbüchern.
Der Ort dieses Eis-Wunders ist nur 600 Meter vom Palace entfernt. Vor der Eishalle wehen unter anderem noch die Fahnen der ehemaligen DDR, der früheren Sowjetunion und von Ex-Jugoslawien. Auch drinnen scheint die Zeit stehen geblieben, fast alles ist noch so, wie an jenem 22. Februar 1980. Die roten Sitzschalen. Die Ersatzbänke. Und selbst die simplen Holztische- und Stühle oben unter dem Dach, von denen die Journalisten diese Eishockey-Sensation in die Welt hinaus kommunizierten und der amerikanische Fernsehkommentator Al Michaels in den letzten Sekunden der Partie die berühmte Frage in sein Mikro brüllte: "Do you believe in miracles?" Glauben Sie an Wunder? Eine Frage, die er mit der Schlusssirene selbst beantwortete: "YES."
Jon Lundin ist damals 13 Jahre alt. Er gehört zu den Mitwirkenden der Schlussfeier und hat daher eine Olympia-Akkreditierung. Lundin sieht alle vorangegangenen Spiele des US-Teams, doch zum Duell gegen die Sowjetunion muss er draußen bleiben. Die Halle ist einfach zu voll, die Polizei lässt niemanden ohne Karte hinein - auch nicht den flehenden Jon Lundin mit seinen traurigen Augen. "Zum Glück wohnten wir nur anderthalb Kilometer entfernt. Also lief ich nach Hause und schaute das Spiel dort - und zwar auf dem kanadischen Sender CBC. Denn das US-Fernsehen zeigte die Partie erst später als Aufzeichnung", sagt Lundin im Gespräch mit n-tv.
Eric Heiden trotz fünfmal Gold im Schatten des Eis-Wunders
Er sitzt in der Halle, schaut auf das Eis und spricht über all die Jubelszenen, die sich damals auf Lake Placids wichtigster Straße, der Main Street, abspielten. Leute sangen die US-Nationalhymne, Fremde lagen sich in den Armen. "Ich sehe noch alles vor mir, als wäre es gestern gewesen", sagt er. Lundin ist mittlerweile 52 Jahre alt und Kommunikations-Direktor von ORDA, der Regionalbehörde, die für die Olympischen Wettkampfstätten in Lake Placid verantwortlich ist. "Dieses Spiel", betont er, "macht es uns möglich, das zu tun, was wir tun. Wegen dieses Spiels habe ich einen Job als Kommunikations-Direktor hier."
Die 13. Winterspiele von Lake Placid lieferten viele große Momente. Der US-Amerikaner Eric Heiden holte auf dem Olympic Oval, direkt vor der Eishalle, fünfmal Gold im Eisschnelllauf - er lief dabei viermal Olympia- und einmal Weltrekord. Ingemar Stenmark, der berühmte Schwede, fuhr im Slalom und Riesenslalom zum Sieg. Die in Straubing geborene Hanni Wenzel gewann für Liechtenstein beide Wettbewerbe der Frauen. Doch all diese Leistungen standen im Schatten eines Eishockey-Spiels.
Das Miracle on Ice ist 14.245 Tage her. Ein halbes Menschenleben. In Lake Placid ist es trotzdem nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart. Überall. "Wir sitzen hier 39 Jahre später und unterhalten uns über dieses Spiel", sagt Lundin. Wenige Meter weiter arbeitet Stephen Vasser. Wer ins Olympia-Museum kommt, trifft ihn am Empfangsdesk. Und wer ihn trifft, stellt umgehend die Frage: "Dürfen wir in die Eishalle?" Vasser war am Tag der größten Sensation in der US-Olympiageschichte 23 Jahre alt und als Hausmeister in der Halle tätig. "Ich wurde dafür bezahlt, hier zu sein und diese Spiele zu gucken", sagt er und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Vasser geht in den hinteren Teils des Museums. Dort steht das Tor, in das Mike Eruzione damals den Puck zum siegbringenen 4:3 schlenzte. Im Gehäuse liegt die Ausrüstung von US-Schlussmann Jim Craig. Direkt dahinter sind eine kleine Sitzecke und ein Fernseher, auf dem das Spiel in einer Endlosschleife läuft.
Miracle on Ice ist Tagesgespräch
Bei Jake Burns gibt es das Miracle on Ice ebenfalls täglich zu sehen. Der 44-Jährige hat ein Sportgeschäft auf der anderen Straßenseite, nur 100 Meter von der Halle entfernt. Locker Room 5 heißt es - in Anlehnung an die Kabine Nummer 5, in der sich das US-Team umzog. Burns war 1980 sechs Jahre alt und sah das Spiel im Schwarz-weiß-Fernseher. Doch er saß nicht etwa im Sessel oder auf der Couch. Nein, er stand vor dem Kamin, der für ihn natürlich kein Kamin, sondern das US-Tor war. Er trug die Gittermaske des Baseball-Helms seines Vaters, der Catcher war. In der linken Hand hielt der kleine Jake einen Baseball-Handschuh und in der rechten einen Küchenbesen. "Ich war natürlich Jim Craig", sagt Burns.
In seinem Geschäft hängen etliche Fotos des Spiels von 1980 - und auch ein unterschriebenes Trikot des damaligen sowjetischen Torwarts, Wjatscheslaw Tretjak. Burns’ ganzer Stolz ist jedoch ein von Jim Craig signiertes Poster. Das Miracle on Ice sei heute immer noch ein "big deal", sagt er. Jeden Tag komme jemand in sein Geschäft und spreche ihn auf das denkwürdige Spiel an. Während bei Locker Room 5 nicht jeder sofort einen Zusammenhang mit dem Miracle on Ice herstellt, ist der Name im Sportgeschäft von Matt Nyman Programm. Es heißt Miracle on Ice - und führt von T-Shirts über Jacken, Wimpel, Mützen bis hin zu Kaffeetassen, Schlüsselanhängern und Gemälden alles mit eben jenem Schriftzug. "Ich hatte einfach das Gefühl, dass es Zeit wurde für einen solchen Laden. Und ich war sogar verwundert, dass es bis dahin noch nirgendwo einen gegeben hatte", sagt Nyman, der das Geschäft 2016 eröffnete.
Politische Situation macht Spiel so besonders
Wenn Lundin, Nyman, Burns und Vasser über das Wunder auf dem Eis sprechen, reden sie nicht nur über den unerwarteten 4:3-Sieg, sondern verweisen alle auch auf die politische Situation, die dieses Spiel so geschichtsträchtig gemacht hat. Der Kalte Krieg, der Eiserne Vorhang, kurzum: die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion. Die war wenige Monate zuvor in Afghanistan einmarschiert. Dies nahm US-Präsident Jimmy Carter zum Anlass, mit einem Boykott der Sommerspiele 1980 in Moskau zur drohen.
Hinzu kam, dass das Gros der sowjetischen Mannschaft bei ZSKA Moskau spielte - dem Klub der Roten Armee. Die großen Namen wie Wjatscheslaw Fetisov, Wjatscheslaw Tretjak, oder die KLM-Sturmreihe Wladimir Krutov, Igor Larionow und Sergej Makarow, waren Angehörige der Sowjetarmee. Sie alle waren Soldaten, aber sie waren zu allererst Eishockeyspieler. Grandiose Eishockeyspieler. Zwar gab es in der Sowjetunion offiziell keine Profis, sondern alle hatten den Status von Staatsamateuren. Dennoch trainierte die "Rote Armee", wie das Team auch genannt wurde, wie Berufssportler. Die US-Mannschaft hingegen setzte sich aus bis dato namenlosen College-Spielern zusammen.
Ohne Miracle kein Sportgeschäft
"Wenn es das Miracle on Ice nicht gegeben hätte, hätte ich keinen Sportladen in Lake Placid", betont Matt Nyman. Er hebt hervor, dass bei allen Olympischen Spielen viel passiere und sich alle zwei Jahre Möglichkeiten für Menschen ergeben würden. "Und nach dem Ende der Spiele reden wir über das, was geschehen ist. Aber du eröffnest deshalb keine Geschäfte", so Nyman. Jon Lundin bezeichnet das Miracle on Ice als "den Kennedy-Moment meiner Generation." Wie bei der Erschießung von Kennedy wüssten die Leute noch genau, wo sie waren, was sie gemacht hätten und mitunter sogar, welche Kleidung sie trugen, als die USA die Sowjetunion auf dem Eis von Lake Placid besiegten.
Und die Magie dieses Moments vom 22. Februar 1980 ist in Lake Placid immer noch spürbar und greifbar. Gut 40 Eishockey-Turniere werden zwischen Oktober und März in der ehemaligen Olympiahalle ausgetragen. Im Rund sind die Namen der Helden von damals zu lesen. Die Kabine Nummer 5 mit den 20 Namen der US-Mannschaft von damals links neben der Eingangstür sowie der berühmten Ansprache von Trainer Herb Brooks auf der rechten Seite, ist für jeden zugänglich und gilt unter den Hobby-Teams als "lucky locker", als glücksbringende Umkleide. Und auf ihrem Weg nach Lake Placid, weiß Jon Lundin zu berichten, laufe in vielen Bussen der Jugendmannschaften "Miracle".
Der Film, sagt Jake Burns, habe die jüngere Generation mit der Geschichte des Miracle verbunden. Das wird auch an diesem Donnerstag in Lake Placid deutlich. Während der zwei Vorführungen sitzen im Kino viele Kinder. Sie kennen die Namen Mike Eruzione, Jim Craig, Mark Johnson oder Herb Brooks nur von ihren Eltern oder Großeltern. Doch sie sind schnell gefesselt von dieser Underdog-Story. Hier in Lake Placid wirkt der Streifen ohnehin ein bisschen authentischer als anderswo. Die Eishalle ist gleich in der Nähe, Matt Nymans Miracle on Ice-Sportgeschäft sogar direkt gegenüber vom "Palace". Den Film "Miracle", gibt es allerdings nur einmal im Jahr zu sehen. Immer am 21. Februar - dem Vorabend des Jahrestages.
Quelle: n-tv.de
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