90 Minuten hatte Theresa May dieses Mal Zeit, um die Staats- und Regierungschefs der restlichen EU-Länder davon zu überzeugen; um ihnen klarzumachen, dass sie einen Plan hat, das Brexit-Austrittsabkommen in letzter Minute doch noch über die Bühne zu bekommen. 90 Minuten - so lange haben ihre Kollegen sich im Zuge der Brexit-Gespräche noch nie Zeit genommen, um gemeinsam mit May zu beraten.
Sie wurden enttäuscht, mal wieder. May war wieder heiser, berichten Teilnehmer, das kann man ihr natürlich nicht vorwerfen. Vor allem konnte die Premierministerin erneut kein überzeugendes Szenario aufzeigen, wie sie den Deal doch noch über die Ziellinie bringen will.
Die Folge kam postwendend. Als May den Sitzungssaal verließ, beugten sich die 27 restlichen Staats- und Regierungschef über ein Papier, das Ratspräsident Donald Tusk auf den Tisch gelegt hatte. Einige Stunden später einigten sie sich auf Grundlage einer zweiten Version:
Der Brexit wird bis zum 22. Mai verschoben. Dies gilt jedoch nur, wenn das britische Parlament das Austrittsabkommen kommende Woche annimmt.
Sollte dies nicht geschehen, müssen die Briten bis zum 12. April sagen, wie es aus ihrer Sicht weitergehen soll - vor allem, ob sie an der Europawahl teilnehmen wollen. Der 12. April ist nach Angaben der britischen Regierung der letzte Tag, ab dem man sich noch auf die Teilnahme an der Europawahl vorbereiten könnte.
"Wenn der Plan eine weitere Verlängerung vorsieht, bedeutet das, dass wir an den Europawahlen teilnehmen müssen", sagte May in der Nacht zum Freitag. Gut möglich also, dass man sich in drei Wochen in Brüssel zu einem weiteren Gipfel wiedersieht.
Damit wird die Europawahl nun immer stärker zu einer entscheidenden Zäsur in der Brexit-Debatte. Es ist auch ein Symbol: Die EU will die Wahl und die Legitimität des künftigen Parlaments nicht mehr von den Winkelzügen der Briten abhängig machen. Den 29. März als Brexit-Datum haben die Briten gesetzt, indem sie ihren Austrittantrag stellten. Die neuen Daten setzt die EU.
Die Staats- und Regierungschefs diskutierten im Laufe des Abends mehrere Varianten. Wenn man so will, nahmen sie sich nun zum ersten Mal im Kreis der 27 richtig lange Zeit, um darüber zu reden, wie man darauf reagieren soll, wenn May auch kommende Woche damit scheitert, im britischen Unterhaus für das Austrittsabkommen eine Mehrheit zu erhalten.
Das Arbeitsabendessen, das eigentlich zur Debatte über den Umgang mit China dienen sollte, wurde so zum Brexit-Dinner. Ziel der verbleibenden EU-Mitglieder ist es, zu verhindern, dass das Brexit-Chaos in London die Politik in Brüssel ansteckt. Daher wollen sie sicherstellen, dass die Briten entweder die EU verlassen oder an der Europawahl teilnehmen.
Bei den Beratungen entwickelte sich immer mehr der 12. April zu einem entscheidenden Datum. Bis dahin müssen die Briten internen Regeln folgend entscheiden, ob sie an der Europawahl Ende Mai teilnehmen oder nicht. Das Datum steht also, unabhängig von politischen Debatten.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron machte schon zum Start der Sitzung klar, dass es auch gut zu einem Brexit ohne Deal kommen könnte, mit all seinen verheerenden Folgen. Sollte das Londoner Unterhaus nicht noch einmal abstimmen oder aber den Deal ein drittes Mal abschmettern, "wird uns das mit Sicherheit in Richtung eines No-Deals führen", sagte er. "Das war's dann."
Die deutsche Kanzlerin sieht das anders, sie will einen harten Brexit weiter vermeiden und sich alle Optionen offenhalten. Ein Gespräch, zu dem sich Angela Merkel und Macron vor dem Start des Gipfels trafen, brachte viele schöne Fotos, aber keine Einigkeit.
Theresa May hatte Brüssel um einen Aufschub bis Ende Juni gebeten, doch das schien dem Rest der EU zu riskant. Immerhin: Am 23. Mai starten die Europawahlen. Sollte Großbritannien aber nicht an der Wahl teilnehmen und anschließend trotzdem noch EU-Mitglied sein, befürchten die EU-27 erhebliche Probleme.
Sowohl die EU-Kommission als auch mehrere Regierungen haben davor gewarnt, dass in diesem Fall das EU-Parlament rechtswidrig zusammengesetzt sein könnte und womöglich alle seine Entscheidungen - darunter die Wahl der neuen EU-Kommission und ihres Präsidenten - anfechtbar wären.
Dass May eine durchschlagende Strategie hat, den Deal in absehbarer Zeit durchs Londoner Parlament zu bekommen, glaubt in Brüssel allerdings niemand wirklich. Beim Vortreffen der Regierungschefs der Europäischen Volkspartei (EVP) äußerte nach Informationen des SPIEGEL unter anderem Kanzlerin Merkel ihr Unverständnis darüber, dass May am Mittwochabend das britische Parlament für das bisherige Scheitern des Deals verantwortlich machte. Immerhin braucht sie die gleichen Abgeordneten in den nächsten Tagen, um das Abkommen doch noch durchzubekommen.
Offen sagte Merkel es anders: "Wir wollen Theresa May unterstützen in ihrem Anliegen. Das haben wir auch zum Ausdruck gebracht." Die Kanzlerin sprach nach Ende der Beratungen in Brüssel von einer "sehr ehrlichen, wichtigen Diskussion".
Immerhin, ein paar Lacher gab es am Ende. Ratspräsident Donald Tusk wurde am Donnerstagabend auf seinen inzwischen berüchtigten Satz angesprochen, es sei ein "besonderer Platz in der Hölle reserviert" für diejenigen, die dem britischen Volk falsche Versprechungen zum Brexit gegeben hätten.
Ob die Hölle nun vergrößert werden müsse, sollte das Londoner Unterhaus nächste Woche den Austrittsdeal erneut ablehnen? "Laut unserem Papst ist die Hölle noch leer", sagte Tusk. "Also gibt es dort noch eine Menge Platz."
spiegel
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