Warum diese Europawahl so wichtig wird

  26 Mai 2019    Gelesen: 879
  Warum diese Europawahl so wichtig wird

Selten war das Interesse an einer Europawahl so groß wie in diesem Jahr. Zu Recht: In Straßburg verrutschen voraussichtlich die Machtverhältnisse. Konservativen und Sozialdemokraten droht ein historischer Verlust der Mehrheit. Rechtspopulisten werden Prognosen zufolge eine neue große Fraktion stellen. Oder stolpern sie doch noch über die FPÖ-Krise in Österreich? Welche Folgen hat das Ergebnis für deutsche Spitzenpolitiker? Und wer führt künftig die mächtige EU-Kommission? Die wichtigsten Fragen und Antworten: 

Gewählt werden die Abgeordneten des Europaparlaments. Sie wissen immer noch nicht so genau, was in Straßburg passiert? Das ist okay. Hier eine Kurzfassung: 

Zwei Institutionen sind für den Gesetzgebungsprozess in der EU verantwortlich: der Rat der Mitgliedsstaaten, in dem die jeweiligen Regierungschefs vertreten sind, und das Parlament in Straßburg. Das Zusammenspiel lässt sich grob vergleichen mit dem Verhältnis von Bundestag und Bundesrat - allerdings mit Einschränkungen. Denn die 751 Europaabgeordneten haben kein Initiativrecht wie der Bundestag, können also nicht selbst Gesetzentwürfe auf den Weg bringen. Das macht bisher die Kommission. Danach bilden sich Rat und Parlamanent darüber eine Meinung. Anschließend verständigen sich Rat, Kommission und Parlament auf einen Kompromiss und dann stimmen Rat und Parlament noch einmal ab.

Das Parlament hat in vielen Bereichen, etwa im Binnenmarkt, der Landwirtschaft oder in Sicherheitsfragen eine gleichberechtigte Position und erheblichen Einfluss auf die Beschlusslage bei EU-Richtlinien, -Verordnungen und -Entscheidungen. Was in Straßburg passiert, mag weit weg erscheinen, betrifft aber alle Menschen in der EU. Eines also vorweg: Sie sollten auf jeden Fall wählen gehen!

Was sagen die Prognosen - wer gewinnt?

Der nationale Trend, dass die Volksparteien starke Verluste hinnehmen müssen, wird sich voraussichtlich auch im Europawahlergebnis niederschlagen. Schon bei der letzten Wahl 2014 musste die EVP-Fraktion, in der auch die Abgeordneten von CDU und CSU arbeiten, 59 Sitze abgeben. Das heutige Votum könnte die Fraktion um mehr als 40 weitere Sitze eindampfen. Außerdem wird die sozialdemokratische S&D-Fraktion voraussichtlich mehr als 30 Abgeordnete verlieren. 

Die größten Gewinner werden Prognosen zufolge Parteien wie die AfD, die italienische Lega und die französische Rassemblement National (ehemals Front National) sein. Sie haben bereits angekündigt, eine neue gemeinsame Fraktion unter Führung von Lega-Chef Matteo Salvini zu gründen. Bis zu 37 Sitze könnten sie dazugewinnen. Von einer Mehrheit sind sie allerdings weit entfernt. Selbst in aus Sicht der Nationalisten günstigen Prognosen kommen die Parteien auf weniger als 200 der 751 Sitze.

Hinzu kommt, dass die rechten Parteien sich alles andere als einig sind. Ein Beispiel: Die italienische Lega und die deutsche AfD stimmen zwar bei der Ablehnung der EU überein. Die großen AfD-Themen Migration und EU-Finanzpolitik jedoch bergen Konfliktstoff. Die Lega möchte Geflüchtete gerne unmittelbar an andere EU-Staaten, auch nach Deutschland weitergeben. Außerdem wollen Italiens Rechtspopulisten mehr Staatsschulden aufnehmen, um ihre ambitionierte Sozialpolitik umzusetzen. Beide Vorstöße sind der AfD ein Graus. Die Zusammenarbeit könnte kompliziert werden.

Zweiter großer Gewinner könnte die neue Fraktion des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sein. Seine "En-Marche"-Bewegung soll künftig mit zahlreichen liberalen Parteien, auch der deutschen FDP, eine neue Fraktion bilden und könnte nach der Wahl mehr als 100 der 751 Parlamentarier stellen.

Bei allen Prognosen zählt aber letztlich das Ergebnis. Die Niederländer haben bereits am Donnerstag über das Europaparlament abgestimmt. Völlig überraschend sind die Sozialdemokraten dort mit 18,4 Prozent stärkste Kraft geworden. Großer Verlierer: ausgerechnet Rechtspopulist Geert Wilders. Er holte gerade einmal vier Prozent der Stimmen.

Wer wird der neue Kommissionspräsident?

EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber hat sich fest vorgenommen, den Posten an der Spitze der Kommission zu besetzen. Dazu muss er allerdings mehrere Hürden nehmen. Erstens wird seine Fraktion voraussichtlich zwar stärkste Kraft. Doch selbst wenn EVP und Sozialdemokraten wie sonst auch üblich gemeinsam für einen Kandidaten stimmen, dürfte es nicht für eine Mehrheit reichen. Weber braucht weitere Unterstützung aus der liberalen und/oder grünen Fraktion. Die könnten aber versuchen, eigene Kandidaten zu platzieren. Hinzu kommt, dass der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, Frans Timmermans, über ein "progressives" Bündnis mit den Linken nachdenkt. Doch auch für ein rot-rot-grünes Bündnis dürften die Stimmen nicht zu einer Mehrheit reichen.

Die andere Hürde liegt zeitlich gesehen noch vor der Abstimmung im Parlament. Denn den Vorschlag, wer Kommissionspräsident werden soll, macht die Kommission dem Parlament. Im Vertrag steht aber nur, dass sie einen Kandidaten unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Europawahl auswählen muss. Aus Sicht des EU-Parlaments muss der Posten des Kommissionschefs mit einem der Spitzenkandidaten für die Europawahl besetzt werden. Nirgendwo steht, dass die stärkste Fraktion auch den Kommissionspräsidenten stellt. Es sind also noch weitere Kandidaten im Gespräch: Sozialdemokrat Timmermans und die dänische Liberale Margrethe Vestager. 

Könnte die Regierungskrise in Österreich Auswirkungen auf den Ausgang der Wahl haben?

Alle außer den Rechtspopulisten selbst hoffen, dass die Enthüllungen um den zurückgetretenen österreichischen Vizekanzler und Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache die Menschen europaweit davon abhalten, nationalistische Parteien zu wählen. Ob ein solcher Effekt eintritt, ist allerdings fraglich. Außerhalb Österreichs waren das "Ibiza-Video" und die Folgen nur in wenigen Staaten ein so großes Thema wie in Deutschland. Und selbst hierzulande ist unklar, ob sich Wähler umentscheiden, weil die Schwesterpartei der AfD in Österreich in einen schlimmen Skandal verwickelt ist. In rechten Facebook-Gruppen etwa ist nicht erkennbar, dass das Weltbild von der Affäre erschüttert würde. Andererseits: Die Frage, ob das schlechte Abschneiden der PVV in den Niederlanden, ebenfalls Schwesterpartei der FPÖ, etwas mit dem Skandal zu tun hat, muss noch geklärt werden.

In Österreich ist aber sehr wohl damit zu rechnen, dass sich Wähler von der FPÖ abwenden. In einer ersten Umfrage nach dem Skandal verlor die Partei fünf Prozent. Doch selbst wenn dort plötzlich niemand mehr die FPÖ wählen würde, wovon nicht auszugehen ist, wären die Folgen für das Europaparlament nur sehr begrenzt: Salvinis neue Rechtsfraktion wäre dann um gerade einmal vier Sitze schwächer als projeziert.

Lässt sich sagen, was die Menschen in Europa vor der Wahl beschäftigt?

Jedes Land hat natürlich eigene große Themen. Im Wahlkampf auf Zypern werden andere Schwerpunkte gesetzt als in Finnland. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten. Die hat eine Studie der Denkfabrik European Council on Foreign Relations ausgemacht, für die mehr als 46.000 Menschen in 16 Ländern befragt wurden. Das wichtigste Thema ist demnach Migration - allerdings in unterschiedlicher Form. Deutsche, Österreicher, Schweden und Dänen beschäftigt, dass so viele Menschen in ihre Länder kommen. Für Spanier, Italiener, Polen, Tschechen und Rumänen ist der Studie zufolge die Frage viel drängender, wie mit dem Problem der Abwanderung umgegangen werden kann. Wichtig sind vielen Menschen in Europa außerdem die Themen Arbeitslosigkeit, Lebenshaltungskosten und Fragen der Gesundheitspolitik.

Könnte das Wahlergebnis Konsequenzen für deutsche Politiker haben?

Vielleicht wird die SPD, ähnlich wie die niederländischen Sozialdemokraten, von einem überraschenden Wahlsieg heimgesucht. Wer weiß. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie erstmals bei einer bundesweiten Wahl unter 20 Prozent fällt, vielleicht sogar unter 15. Möglich, dass Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles dann nicht mehr für die Partei zu halten ist. Kommt eine Niederlage bei der Bürgerschaftswahl in Bremen dazu, wird es eng für sie. Mehrere Medien, unter anderem der "Spiegel", zitieren Fraktions-Gerede, wonach sich Fraktionsvize Achim Post und Ex-Kanzlerkandidat Martin Schulz schon vorbereiten, Nahles an der Fraktionsspitze abzulösen. Auch den Gegnern der Großen Koalition um Juso-Chef Kevin Kühnert würde ein schlechtes Wahlergebnis neue Argumente liefern.

Sollte der Ausgang der Europawahl die SPD letztlich dazu bewegen, vorzeitig aus der Großen Koalition auszuscheiden, könnte das für den Fall von Neuwahlen auch ein Ende der Kanzlerschaft Angela Merkels bedeuten. Sie hatte angekündigt, bei der nächsten Wahl nicht ein weiteres Mal anzutreten. Dieses Szenario allerdings ist nicht besonders wahrscheinlich.

Quelle: n-tv.de


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