Seit dem Giftangriff von Salisbury hat sich der britisch-russische Doppelagent Sergej Skripal nicht in der Öffentlichkeit gezeigt. Es heißt zwar, er soll die Attacke mit dem Nervenkampfstoff "Nowitschok" am 4. März 2018 überlebt haben - so sagen es die britischen Behörden. Aber man hat das nicht aus Skripals eigenem Mund gehört.
Anders als seine Tochter Julia, die mit ihm vergiftet wurde, ist er nie mit einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit getreten. Skripal bleibt stumm, es gibt kein Lebenszeichen.
Das hat sich jetzt geändert. Skripals Nichte - und Julias Cousine - Viktoria Skripal hat einen Telefonanruf ihres Onkels Sergej öffentlich gemacht. Nun kann, wer die Stimme Sergej Skripals hören will, im Internet eine Aufzeichnung abspielen, sie wurde von der Boulevardzeitung "Moskowskij Komsomolez" verbreitet.
Viktoria Skripal zufolge handelt es sich um Grüße, die ihr Onkel am 9. Mai auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen hat. Die Stimme klingt frisch, freundlich, familiär. Der Anrufer meldet sich als "Onkel Serjoscha" und berichtet, dass es ihm und "Juletschka" (die Koseform von Julia) gut gehe, und dass die Nichte doch bitte "Mamulja" zum Feiertag gratulieren solle. Am 9. Mai wurde in Russland der Tag des Sieges im Zweiten Weltkrieg begangen, den Skripals Mutter noch miterlebt hat. Sie wohnt bei Viktoria.
Der Anruf widerlegt die Vermutung, Sergej Skripal sei tot - einen Verdacht, den Viktoria Skripal selbst noch im März geäußert hatte. Auf einer Pressekonferenz stellte sie damals die gesamte britische Version des Tathergangs in Frage. London hat Offiziere des russischen GRU als Tatverdächtige identifiziert - jenes Militärgeheimdienstes also, für den auch Skripal gearbeitet hatte, bevor er die Seite wechselte und für den GRU zum Verräter wurde.
Moskau dagegen streitet jede Beteiligung ab, wenn auch ohne überzeugende Erklärungen. Viktoria Skripal stützte mit Nachdruck die Position Moskaus in Medienauftritten. Das wurde zum Streitpunkt zwischen ihr und der Cousine Julia.
Nun stellt sich heraus, dass auch Sergej Skripal sie dafür gerügt hat. Der erste telefonische Kontakt mit ihrem Onkel fand offenbar schon einen Monat vor der nun veröffentlichten Aufzeichnung statt, in einem rund fünf Minuten dauernden Anruf im April. Wie Viktoria Skripal dem SPIEGEL bestätigte, war es das erste Telefonat, seit sie am 28. Februar 2018 mit dem - damals noch gesunden - Onkel telefoniert hatte.
Dieser habe ihr geraten, sich nicht mehr öffentlich einzumischen. "Kümmert ihr euch um euch, wir kümmern uns um uns", habe er gesagt. Er habe auch kritisiert, dass Viktoria eine Vermisstenmeldung bei der russischen Polizei aufgegeben hatte.
Eine Aufzeichnung des Gesprächs vom April gebe es nicht, behauptet Viktoria. Aber sie sei sicher, dass es sich bei dem Anrufer im April, wie im Mai, tatsächlich um ihren Onkel handle. "Das war er, das war seine Art zu reden." Sie habe im April schon die russischen Ermittler informiert.
Auf seinen Aufenthaltsort und seine Lebensumstände ging Skripal bei den Anrufen nicht ein. Beide Anrufe wurden von englischen Nummern getätigt. Man kann darauf schließen, dass er nicht allein war. Denn bevor Skripal seine Nachricht am 9. Mai hinterließ, hatte er bereits mehrfach angerufen. Dabei sprang einmal der Anrufbeantworter an. Auf der Aufzeichnung - sie liegt dem SPIEGEL vor - ist eine Männerstimme zu hören, die auf Englisch "Was ist los?" fragt. "Just operators answers" ("nur eine automatische Ansage") sagt ein Mann mit schwerem russischem Akzent, offenbar Skripal. Weitere Stimmen sind im Hintergrund zu hören.
Seither hat sich Sergej Skripal nicht mehr bei Viktoria gemeldet, und auch nicht bei seiner eigenen Mutter, mit der er vor dem Anschlag regelmäßig telefoniert hatte.
spiegel
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