Dieses Auditorium ist selbst für Angela Merkel außergewöhnlich. Etwa 20.000 Absolventen, deren Angehörige, Ehemalige und Professoren werden auf dem Campus der berühmten US-Eliteuniversität Harvard in Cambridge erwartet, wenn die Kanzlerin ihre Rede bei der Abschlussfeier des aktuellen Studentenjahrgangs hält.
Merkel ist Beifall in der liberalen Hochburg gewiss, in Harvard hat US-Präsident Donald Trump wenig Freunde. Er selbst hat keine Zeit für die Kanzlerin gefunden, obwohl seit vergangenem Jahr bekannt ist, dass Merkel im Land sein wird. Ein deutscher Regierungssprecher teilt auf Anfrage mit, die US-Seite habe zu einem frühen Zeitpunkt wissen lassen, dass Trump an diesem Tag nicht in Washington sein werde. Der US-Präsident hält am Donnerstag ebenfalls eine Rede, und zwar vor Absolventen der Air Force Academy in Colorado Springs, rund 2850 Kilometer Luftlinie von Harvard entfernt.
Terminprobleme hin oder her: Bezeichnend für das transatlantische Verhältnis ist es dennoch, dass die beiden sich nicht sehen, obwohl Merkel in den USA ist. Zuletzt hatte Merkel Trump im Dezember 2018 am Rande des G20-Gipfels in Buenos Aires zu einem persönlichen Gespräch getroffen. Am Telefon sprachen Merkel und Trump zuletzt am 22. März miteinander. Drängende Themen gibt es mehr als genug: Zum Beispiel die Lastenverteilung in der Nato (Deutschland zahlt aus Trumps Sicht nicht genug), drohende US-Strafzölle auf europäische Autoimporte (wovon vor allem deutsche Hersteller betroffen wären) oder die Gas-Pipeline Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland (die Trump ein großer Dorn im Auge ist).
Auch die Abstimmung über das nächste persönliche Treffen zwischen der Kanzlerin und dem Präsidenten läuft holprig. Noch immer ist unklar, ob es anlässlich der britischen D-Day-Feiern zum 75. Jahrestag der Landung der alliierten Truppen in der Normandie in Portsmouth zu einem bilateralen Gespräch kommen wird - oder womöglich erst am Rande des G20-Treffens Ende Juni im japanischen Osaka.
Sehr verschiedene Biografien
Immerhin holt US-Außenminister Mike Pompeo am Freitag seinen ersten Berlin-Besuch nach, den er vor gut drei Wochen kurzfristig absagte. Seit Trump im Amt ist, ist vieles nicht mehr wie früher - das gilt auch für die Beziehungen zwischen Berlin und Washington. Zu einem bilateralen Besuch war Trump bis heute nicht in Deutschland. Merkel wurde von ihm bislang zwei Mal im Weißen Haus empfangen. Warm geworden ist sie mit dem US-Präsidenten nie.
Unterschiedlicher als Trump, der milliardenschwere Baumagnat aus New York, und Merkel, die promovierte Physikerin mit DDR-Biografie, können Politiker kaum sein. Trump protzt, poltert und beleidigt seine Gegner, während Merkel die leiseren Töne bevorzugt. Der Mann im Weißen Haus setzt auf große Emotionen, die Bundeskanzlerin auf nüchterne Tatsachen - und mit denen nimmt es Trump gar nicht genau: Die Faktenchecker der "Washington Post" haben seit seinem Amtsantritt Anfang 2017 mehr als 10.000 falsche oder irreführende Behauptungen des US-Präsidenten gezählt.
Wenn Trump auch keine Zeit für Merkel haben mag: In Harvard fühlt man sich geehrt, dass die Kanzlerin spricht. Uni-Präsident Larry Bacow schraubte die Erwartungen an den Auftritt schon bei der Ankündigung im vergangenen Jahr in die Höhe. Merkel sei eine der "am meisten bewunderten und einflussreichsten" Figuren der internationalen Politik, begründete er am 7. Dezember 2018 die Einladung. Dieser Tag war ein ganz besonderer im Leben von Angela Merkel: Auf dem CDU-Parteitag in Hamburg wurde sie am Nachmittag von ihrer Wunschnachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer nach 18 Jahren im Amt als Parteichefin abgelöst.
Bacow rühmte Merkel damals mit außergewöhnlichen Worten. Während ihrer vier Amtszeiten habe die Kanzlerin mit ihrer Führungsrolle nicht nur den Kurs Deutschlands bestimmt, sondern auch den Europas und der Welt. Sie spiele eine zentrale Rolle bei der Bewältigung einiger der großen Herausforderungen unserer Zeit - er freue sich auf eine sicherlich "denkwürdige" Rede.
"Staatsfrau von Weltrang"
In einem Youtube-Video, das die Universität schon im Dezember veröffentlichte und das wie ein Trailer für einen Kinofilm wirkt, wird Merkel wie eine lebende Legende gefeiert. Die offizielle Nachrichtenseite der Hochschule gibt ihrem Artikel über den Auftritt der Kanzlerin die Schlagzeile: "Angela Merkel, die Wissenschaftlerin, die Staatsfrau von Weltrang wurde".
Selbst wenn das Merkel schmeicheln sollte - die unprätentiös auftretende Kanzlerin dürfte sich das bei ihrer Rede kaum anmerken lassen. Schon vor zwei Jahren hatte sie Erwartungen zurückgewiesen, sie könne in der Auseinandersetzung mit Trump die "Anführerin der freien Welt" sein. "Keiner alleine auf dieser Welt, keine Einzelperson und kein Land alleine" könne die Probleme lösen, sagte sie damals bei einem Besuch in Argentinien. Dennoch: Seit Merkel vor gut einem halben Jahr den Parteivorsitz abgegeben hat, wirkt sie oft wie befreit. Die Beliebtheitswerte der 64-Jährigen sind teils hoch wie nie, obwohl in Berlin seit Wochen über eine frühzeitige Ablösung spekuliert wird.
Es scheint, als seien Europa und die internationale Politik noch stärker als früher in den Fokus von Merkels politischen Anstrengungen gerückt. Kaum eine Rede auf ihren Auslandsreisen kommt ohne die Schwerpunkte Globalisierung, Multilateralismus und Protektionismus aus. Es sind diese Gegenpole zur Politik von Trump, die ihre letzten Jahre als Kanzlerin zu bestimmen scheinen. Zwar hat Merkel in einem Interview mit dem von Trump verachteten US-Fernsehsender CNN wenige Tage vor ihrer Reise nach Cambridge versucht, die Erwartungen an ihren Auftritt dort etwas zu dämpfen. Ihre Ansprache in Harvard werde "keine klassische politische Rede sein, sondern eine Rede, die auch mein Leben den Studenten nahe bringt und die daraus entstandenen Lehren dann auch beinhaltet", sagte sie.
Doch natürlich weiß die Kanzlerin, wie groß die Erwartungen sind - und in wessen Fußstapfen sie tritt. Schon ihre Amtsvorgänger Konrad Adenauer (1955), Helmut Schmidt (1979) und Helmut Kohl (1990) sowie Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1987) sprachen zu Harvard-Absolventen. Gut möglich, dass die in der DDR aufgewachsene Kanzlerin den Absolventen von ihren Glückserfahrungen beim Fall der Mauer und dem Ende der Teilung Deutschlands berichten wird. Und selbst wenn die Kanzlerin bei ihrer Rede Trumps Namen nicht aussprechen sollte, dürften die Studenten bei vielen Themen genau wissen, wer gemeint ist. Der Präsident steht wohl wie der sprichwörtliche Elefant auf dem Uni-Gelände - als offensichtliches Problem, das jeder kennt, das aber nicht direkt angesprochen wird.
Quelle: n-tv.de, Jörg Blank und Can Merey, dpa
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