Am 18. Oktober 1989 hatte Egon Krenz Erich Honecker als SED-Generalsekretär, DDR-Staatsratsvorsitzenden und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR abgelöst. Das war der letzte Versuch, das Land und das eigene System vor dem Untergang zu bewahren – 40 Jahre nach der Gründung. Doch die Probleme nahmen weiter zu und führten am Ende zur Grenzöffnung am 9. November 1989.
Krenz verwies im Gespräch mit Sputnik 30 Jahre später auf einen Fakt, der in den aktuellen Debatten kaum beleuchtet wurde: „Die Grenze quer durch Deutschland war militärisch gesichert wie keine zweite auf der Welt. Von beiden Seiten! Sie war Teil jener Trennlinie, die von der Ostsee im Norden bis an das Schwarze Meer im Süden die Militärblöcke NATO und Warschauer Vertrag voneinander fernhielt. Sie war Metapher für die Zweiteilung Europas. An dieser Grenze wurde mitentschieden, dass aus dem Kalten Krieg kein heißer wurde.“
Grenze zwischen zwei waffenstarrenden Systemen
Spätestens seit dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO 1955 und der darauffolgenden Gründung des Warschauer Vertrages sei es keine „innerdeutsche Grenze“ mehr gewesen. Ab da habe es sich um die Außengrenze der Staaten des Warschauer Vertrages gehandelt. An dieser hätten sich Soldaten und Waffen gegenüber gestanden, „die ausgereicht hätten, dass sich beide gesellschaftlichen Systeme gegenseitig hätten vernichten können“. Gleichzeitig seien für die DDR daraus enorme ökonomische Belastungen entstanden. Sie hätten verhindert, wichtige Probleme ihrer Wirtschaft durch Investitionen lösen zu können, so Krenz.
„Ende der 80er Jahre waren auf der BRD-Seite 900.000 NATO-Soldaten, 194 Raketenstartrampen, 4.100 Artilleriesysteme, 7.800 Panzer und Selbstfahrlafetten und 1.600 Kampfflugzeuge stationiert. Auf DDR-Seite waren es zusammen mit dem sowjetischen Partner 770.000 Soldaten, 236 Raketenstartrampen, 6.300 Artilleriesysteme, 11.300 Panzer und Selbstfahrlafetten sowie 1.050 Kampfflugzeuge. Die DDR war im Osten das Hauptaufmarschgebiet der Warschauer Militärkoalition und die BRD im Westen das der NATO.“
Dass angesichts dieser Fakten und der gegenseitigen Feindbilder der 9. November 1989 friedlich verlief, ist aus Sicht von Krenz kein „Wunder“. Von einem solchen würden heute „manche Kleingeister“ sprechen. Es sei dagegen Ausdruck dafür, „wie ernst die DDR den Grundsatz nahm, von deutschem Boden dürfe nie wieder Krieg ausgehen“. Diese Gefahr hätte durchaus bestanden, „wenn das von Schabowski am 9. November verursachte Chaos außer Kontrolle geraten wäre“.
Gorbatschow mit Lob für DDR-Grenzsoldaten
Der damalige SED- und DDR-Chef erinnerte an die Vorgeschichte des 9. November 1989 und der Grenzöffnung: „Sie ist widersprüchlich. Sie wird unterschiedlich interpretiert, je nachdem, in welchem politischen oder weltanschaulichen Lager man steht.“ Für ihn gehe es darum, bei den historischen Fakten zu bleiben.
„Zur Vorgeschichte der Grenzöffnung gehören: Am 16. April 1986 besuchte Michail Gorbatschow die Grenzanlagen am Brandenburger Tor. Dieser Besuch gewann an Bedeutung, weil er – wie seine Vorgänger auch – zugleich der ‚Oberste Befehlshaber der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages‘ war.“
Danach habe der KPdSU-Generalsekretär sich in das Gästebuch des Stadtkommandanten von Berlin eingeschrieben: „Am Brandenburger Tor kann man sich anschaulich davon überzeugen, wieviel Kraft und Heldenmut der Schutz des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden vor den Anschlägen des Klassenfeindes erfordert. Die Rechnung der Feinde des Sozialismus wird nicht aufgehen ... Ewiges Andenken an die Grenzsoldaten, die ihr Leben für die sozialistische DDR gegeben haben.“
Warum Honecker Gorbatschow misstraute
Auch US-Präsident Ronald Reagan sei am 12. Juni 1987 von der anderen Seite ans Brandenburger Tor gekommen, erinnerte Krenz. Mit dem ihm eigenen Pathos rief er aus: „Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor, … reißen Sie die Mauer nieder!“
Der KPdSU-Chef hat laut Krenz damals der DDR- und SED-Spitze in einem vertraulichen Papier mitgeteilt, was er dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker „in aller Schärfe“ gesagt habe: Die „deutsche Zweiteilung und die Berliner Mauer seien historische Tatsachen und kein Verhandlungsgegenstand“.
Allerdings habe Gorbatschow verschwiegen, dass er zum Bundespräsidenten auch gesagt hatte: „Was in 100 Jahren sein wird, entscheidet die Geschichte.“ Seitdem habe Honecker Gorbatschow in der deutschen Frage misstraut, weil dieser sie seiner Meinung nach wieder für offen erklärt hatte.
Trennlinie mit großem Loch
Im Sommer 1989 habe sich mit dem Urlauberansturm aus der DDR auf Ungarn, einem beliebten Reiseziel, die bundesdeutsche Botschaft in Budapest mit DDR-Bürgern gefüllt. Hunderte von ihnen hätten am 19. August des Jahres auf ungarischer Seite ein offenes Tor im „Eisernen Vorhang“ zu Österreich zum Grenzübertritt genutzt, ohne von den ungarischen Grenzschützern gehindert worden zu sein.
Am 10. September erklärte die ungarische Regierung, dass ab Mitternacht die Grenzen nach Österreich auch für DDR-Bürger geöffnet würden. „Damit hatte die Trennlinie zwischen NATO und Warschauer Vertrag ihr erstes großes Loch“, so Krenz im Rückblick. „Bundeskanzler Kohl hat die Ungarn dafür gut gelöhnt.“
Als DDR-Bürger später auch in Prag in die BRD-Botschaft flüchteten, habe Honecker erklärt, den Flüchtenden werde „keine Träne“ nachgeweint. „Das war zynisch und hat die Lage zugespitzt“, meinte sein Nachfolger dazu. In der DDR sei darauf mit Protesten zunächst unter der Losung „Wir bleiben hier“ reagiert worden. Später sei der Slogan „Wir sind das Volk“ hinzugekommen.
„Das waren keine Forderungen für die Abschaffung der DDR. Es ging um innere Reformen in der DDR. Die politische Führung unter Erich Honecker reagierte darauf nicht. Schnell kam dafür die Bezeichnung ‚Sprachlosigkeit‘ auf. Diese hat die innere Lage der DDR dramatisch zugespitzt.“
Der gewendete Gorbatschow
Er habe bei der Amtsübernahme am 18. Oktober versprochen, dass das Reisen von DDR-Bürger auch ins westliche Ausland gesetzlich geregelt wird, erinnerte Krenz. „Freies Reisen stand an der Spitze der Forderungen der Bürger an ihren Staat.“ Dazu sollte ein Gesetzentwurf öffentlich diskutiert „und noch vor Weihnachten“ in der DDR-Volkskammer beschlossen werden. „Jeder DDR-Bürger sollte einen Reisepass erhalten und reisen können, wann und wohin er auch wollte.“
Gorbatschow habe ihm am 1. November 1989 gesagt, die DDR dürfe sich von der BRD nicht umarmen lassen, erinnerte sich Krenz. Die Einheit Deutschlands stehe nicht auf der Tagesordnung der aktuellen Politik. Darüber habe sich die Sowjetunion mit ihren früheren Partnern aus der Zeit der Anti-Hitler-Koalition geeinigt. Gorbatschow habe ihn ganz offiziell aufgefordert: „Übermittle dies bitte den Genossen des SED-Politbüros.“
Im Rückblick sei „kaum nachvollziehbar, wie schnell sich Gorbatschows Meinung geändert hat. Damals wusste ich allerdings auch noch nicht, dass Gorbatschows Mitarbeiter bereits hinter dem Rücken der DDR Kontakte zum Bundeskanzleramt aufgenommen hatten, um zu erkunden, was die Bundesrepublik bereit wäre, für eine mögliche deutsche Einheit zu zahlen.“
Schabowskis gefährlicher Irrtum
Nachdem ein erster Entwurf für ein Reisegesetz in der DDR-Öffentlichkeit und auch intern abgelehnt wurde, legte die Regierung kurzfristig einen neuen vor. Den habe er auf der Sitzung des SED-Zentralkomitees am Nachmittag des 9. November vorgelesen, berichtete Krenz. Die ZK-Mitglieder hätten einhellig zugestimmt und so sollte die Verordnung am 10. November in Kraft treten.
„Das Dokument übergab ich zusammen mit einer Pressemitteilung, die am 10. November in den Printmedien veröffentlicht werden sollte, an Günter Schabowski, der auf einer internationalen Pressekonferenz darüber informieren sollte.“ Doch Schabowski habe den Beschluss auf der Pressekonferenz nicht erläutert, wie er es tun sollte.
Stattdessen antwortete er erst kurz vor Ende der Pressekonferenz auf die Frage eines Journalisten nach dem Zeitpunkt der Grenzöffnung: „Wenn ich richtig informiert bin, nach meiner Kenntnis unverzüglich.“ Krenz dazu: „Korrekt wäre gewesen ‚Ab morgen‘ oder ‚Ab dem 10. November‘.“
„Das Gefährliche dieses Irrtums bestand darin, dass die Grenztruppen zu diesem Zeitpunkt noch keine Befehle zur Öffnung haben konnten. Hinzu kommt, dass sich alle Mitglieder der DDR-Führung auf einer Tagung des SED-Zentralkomitees befanden und nicht wussten, was Schabowski auf der Pressekonferenz gesagt hatte und folglich selbst nicht aktiv werden konnten.“
„Äußerst gefahrvolle Situation“
Nachdem Ost- wie West-Medien von Schabowskis Aussagen berichteten, machten sich Tausende Berliner auf den Weg zur Grenze. „Nicht, um die ‚Mauer niederzureißen‘, sondern auf ‚Einladung‘ eines Politbüromitgliedes, dessen Mitteilung die Bürger vertrauten, auch wenn diese etwas verwirrend war“, kommentierte das Krenz.
Der damalige Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Walter Momper, habe gesagt, der 9. November sei „kein Tag der Wiedervereinigung, sondern ein Tag des Wiedersehens“. Aus Sicht von Krenz war es aber dennoch eine „äußerst gefahrvollen Situation“. Über den 9. November 1989 gebe es unzählige Legenden, meinte er. Der inzwischen berühmte Versprecher von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski auf einer internationalen Pressekonferenz werde bis heute „genüsslich ausgenutzt, um der DDR-Führung ihre vermeintliche Unfähigkeit zu attestieren“.
Der letzte SED-Generalsekretär sagte gegenüber Sputnik dazu: „Die Geschichte ist bekanntlich nie alternativlos. Auch an diesem Abend war sie es nicht. Die unvernünftige Alternative zu der Art der Grenzöffnung wie sie stattgefunden hat, wäre eine bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzung gewesen, die niemand hätte verantworten können.“
Enger Entscheidungsspielraum
Krenz weiter: „Ich trug an jenem Abend, an dem auch die Übergänge entlang der Grenze zwischen der DDR und der BRD geöffnet wurden, in der DDR die Gesamtverantwortung. Ich befand mich bis nach Mitternacht, als mir das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die Öffnung aller Grenzübergänge ohne ‚besondere Vorkommnisse‘ gemeldet hatte, in meinem Arbeitszimmer im Zentralkomitee. Es mussten Maßnahmen koordiniert werden, die dann in den Folgetagen zur Öffnung von ca. 50 Übergängen in Berlin führten. Es wurde eine operative Führungsgruppe unter Leitung des Sekretärs des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Fritz Streletz, gebildet.“
Nur eine falsche Entscheidung hätte Blutvergießen bedeuten können, betonte der letzte SED-Generalsekretär. Sein Entscheidungsspielraum in diesen Minuten sei „äußerst eng“ gewesen: „Praktisch ging es um die Frage: Lassen wir den Dingen freien Lauf oder setzen wir die bewaffnete Macht zur Sicherung der Staatsgrenze ein? Letzteres wäre ein Spiel mit dem Feuer gewesen.“
Krenz im Rückblick: „Ich hatte Sorge, es könne Panik ausbrechen. Mich bewegte: Was, wenn es in dieser Nacht auch nur einen Toten geben würde? Ich dachte nicht einmal daran, dass geschossen werden könnte. Es gab ja meinen Befehl vom 3. November 1989, der die Anwendung der Schusswaffe auch im Grenzgebiet verbot. Was aber, wenn irgendjemand – von welcher Seite auch immer – provoziert?“
Provokationen seien mehrmals angekündigt worden. Aber auch eine plötzlich eintretende Massenpanik hätte zu Toten führen können. Die Hauptlast der ungewöhnlichen Situation habe „auf den Schultern der Grenztruppen der DDR, der Volkspolizei und des Ministeriums für Staatssicherheit“ gelegen.
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