„Das Volk will es wissen“: Entstehungsgeschichte des „Blockadebuches“

  18 September 2019    Gelesen: 735
  „Das Volk will es wissen“: Entstehungsgeschichte des „Blockadebuches“

Vor 75 Jahren hat die Rote Armee die Blockade von Leningrad endgültig beseitigt, 40 Jahre sind seit dem Erscheinen des Blockadebuchs vergangen und 100 Jahre seit der Geburt seines Autors Daniil Granin. Eine in St. Petersburg eröffnete Ausstellung ist diesen denkwürdigen Daten gewidmet.

“Sie begannen, die ersten Überlebenden der Blockade zu befragen, in ihr Leben einzudringen – und zu verstehen, dass diese Menschen sich an absolut nichts erinnern und nicht darüber sprechen wollten ... Sie wolltennicht in diesen Winter zurückkehren: in jene Jahre der Blockade, in den Hunger, in das Sterben, in ihren demütigenden Zustand.“

So erinnerte sich Marina Tschernyschowa-Granina an den Beginn der Arbeit am „Blockadebuch“ ihres Vaters, Daniil Granin, und des weißrussischen Schriftstellers und Initiator des Buches Alesj Adamowitsch. Adamowitsch und Granin sammelten Material und kamen zu den Leningradern in ihre Gemeinschaftswohnungen, die oft 30 Jahre nach der Blockade ihre Spuren noch nicht verloren hatten. Granin nannte die Blockade später „Epos des menschlichen Leidens“. Mit den Stimmen der einfachen Bürger sprach Leningrad vom tödlichen Winter 1941-1942.

Das „Blockadebuch“, das eines der bekanntesten Werke über die Tragödie von Leningrad ist, basiert auf zweihundert Geschichten von Menschen, die die Blockade überlebt haben. Die Erinnerungen wurden auf Band aufgezeichnet – der Gesamtumfang des gesammelten Materials betrug viertausend Seiten. Die Zensur hat das Buch unfreundlich aufgenommen. Im Moskauer Verlag „Sowjetischer Schriftsteller“ erschien die erste Ausgabe des Blockadebuchs mit einer in sowjetischen Verhältnissen kleinen Auflage von 30.000 Exemplaren. Die Vollausgabe erschien erst 1984 in Leningrad.

Laut Granin hat die Zensur neben Fakten auch die Worte durchgestrichen: „Das Volk will es wissen.“ Diese, eine der vielen „verbotenen“ Redewendungen, war der Schlüssel zur Gestaltung der Ausstellung, die dem 40. Jahrestag der Veröffentlichung des Buches, dem 100. Jahrestag der Geburt von Daniil Granin und dem 75. Jahrestag der vollständigen Befreiung Leningrads von der faschistischen Blockade gewidmet war. Alle drei Jubiläen werden 2019 begangen.

„Das Thema selbst hat ihn (Granin) dazu gebracht, dies zu tun. Für ihn war nicht nur das tragische Schicksal der Stadt von Interesse, sondern auch das Begreifen, dass er ein Soldat war, der diese Stadt verteidigte, und trotzdem überhaupt nicht wusste, wie es war, in dieser Stadt zu leben. Daher war das Buch auch für die Autoren eine Entdeckung – sie wussten das alles nicht. In diesem Buch geht es nicht um Krieg, sondern um den Menschen und seine geistigen Fähigkeiten“, sagt Marina Granina.

Und dennoch hatte sich Granin einige Male mit verschiedenen Anweisungen in die eingekreiste Stadt hinter die Verteidigungslinie begeben – daran erinnerte er sich einige Jahre später.

„Die Stadt hinter uns hat gelitten. Wir haben gesehen, wie sie bombardiert und beschossen wurde, und haben uns schlecht vorstellen können, was in der Stadt selbst vor sich ging. Während der Blockade war ich insgesamt zwei- oder dreimal in der Stadt. Ich erinnere mich, wie die Stadt war. Schneebedeckt, hohe Schneewehen, die Fußwege dazwischen sind Straßen. Nur entlang der Hauptstraßen war es möglich, mit dem Auto zu fahren. Leichen lagen herum, nicht viele. Sie lagen mehr in den Hauseingängen. Die Stadt wurde mit sauberem, weißem Schnee beschüttet. Lautlos, nur ein tickendes Metronom aus den großen Lautsprechern, die überall waren.“

Das Blockadebuch erregte großes Interesse in Deutschland, wo es mehrmals übersetzt und nachgedruckt wurde. Marina Granina und die Tochter Adamowitschs Natalja wurden nach Berlin an die Deutsche Akademie der Künste eingeladen. 25 Jahre lang war Daniil Granin Mitglied der Akademie. Es sei ein ungewöhnliches Ereignis gewesen, erinnert sich Marina Granina. Berühmte deutsche Schriftsteller haben Auszüge aus den Kapiteln des Buches über die Arbeit von Theatern und Fabriken gelesen. Der große Saal der Akademie war voll besetzt. Viele konnten nicht hinein und es gab eine Sendung im Radio.

„Es stellte sich heraus, dass das, was dort geschrieben war, für die heutigen Deutschen so wichtig war, dass sie Eintrittskarten kauften, um die Wahrheit über die Blockade zu erfahren. Das Publikum saß bewegungslos. Alles, was passiert ist, war erstaunlich für mich“, gab Marina Granina zu.

„Die Zeit ist gekommen“, „die Leute wollen es wissen“, „die Leute brauchen ...“ Diese Worte wurden einst von einem Zensor aus dem Buch gestrichen. Jahrzehnte sind seitdem vergangen. War das Bedürfnis, die Wahrheit über die Blockade zu wissen, in der Gesellschaft erfüllt? Diese Frage kann durch Rezensionen von heutigen Lesern beantwortet werden, die auf den Websites von Buch-Online-Shops veröffentlicht wurden. Das „Blockadebuch“ von Adamowitsch und Granin ist laut denOrganisatoren der Ausstellung im Museum für politische Geschichte Russlands nach wie vor das gefragteste Buch über die Tragödie, die die große Stadt erlebt hat.

sputniknews


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