Nordafrika als Burggraben der Festung Europa

  20 September 2019    Gelesen: 777
Nordafrika als Burggraben der Festung Europa

Die EU will Nachbarstaaten zu Bollwerken gegen Migranten ausbauen. Doch der Entwurf eines Deals mit Marokko zeigt, dass Brüssel wenig aus bisherigen Fehlern gelernt hat.

Es begann im Sommer 2018. Erst waren es Dutzende, dann Hunderte Menschen am Tag, die sich in Marokko in Schlauchboote setzten und über die Meerenge von Gibraltar nach Spanien kamen. Unermüdlich war die spanische Seenotrettung im Einsatz. Auf Twitter, Facebook, in Zeitungen und im Fernsehen war zu sehen, wie erschöpfte Migranten den Booten entstiegen oder tot an Land gebracht wurden. Selbst im Winter wurde es kaum besser, im Dezember kamen noch 5000 Menschen auf dem Seeweg in Spanien an - zehnmal so viele wie 2015, auf dem Höhepunkt der Migrationsbewegung.

Dann schloss die spanische Regierung einen Deal mit Marokko - und plötzlich brach die Zahl der Neuankömmlinge ein. 4104 waren es nach Angaben der Uno-Migrationsbehörde IOM im Januar, nur noch 936 im Februar. Ein Rückgang um fast 80 Prozent binnen einem Monat. Die Taktik der Spanier folgte einem bewährten Drehbuch: Herkunfts- und Transitländer sollen Flüchtlinge und Migranten zurückhalten oder aber zurücknehmen - und bekommen im Gegenzug unter anderem Visaerleichterungen, militärisches Gerät und vor allem viel Geld.

Zahlreiche solcher Deals existieren auch zwischen anderen EU-Ländern und Drittstaaten; allein Spanien hat mit 16 Ländern Rücknahmeabkommen abgeschlossen. Die EU-Kommission will das Flickwerk nun offenbar vereinheitlichen. Das zumindest legt der Entwurf eines Rücknahmeabkommens zwischen der EU und Marokko nahe, das dem SPIEGEL vorliegt.

Weitreichende Pflichten, extrem kurze Fristen

Die Kommission hat das vertrauliche Papier bereits Anfang Juli an die EU-Mitgliedsländer verschickt. Nach Angaben von Diplomaten soll der Vertrag eine Art Blaupause sein für künftige Abkommen mit anderen wichtigen Flüchtlings- und Migranten-Herkunftsländern, "damit am Ende nicht jeder EU-Staat seine eigenen Regelungen hat", wie ein Brüsseler Beamter meint.

Der Entwurf hat es in sich. Marokko soll sich demnach verpflichten, nicht nur seine eigenen Staatsbürger zurückzunehmen, sondern auch jene, denen die marokkanische Staatsbürgerschaft zuvor entzogen wurde. Sogar Bürger anderer Staaten sollen zurück nach Marokko, wenn sie auf dem Weg in die EU auch nur illegal durch das Land gereist sind. Wäre Europa eine Festung, würde Marokko Teil des Burggrabens, in dem alle landen, die es nicht über die Mauern schaffen.

Dafür spricht auch, dass die EU der marokkanischen Regierung extrem kurze Fristen setzen will:

  • Ist bewiesen, dass ein Migrant marokkanischer Staatsbürger ist, soll Marokko ihm innerhalb von zehn Tagen Heimreisedokumente ausstellen.
  • Reagieren die marokkanischen Behörden nicht rechtzeitig, gilt das Rücknahmeersuchen automatisch als genehmigt.
  • Hat die betreffende Person ein gültiges marokkanisches Visum, sollen die Behörden des Landes gar nicht mehr groß gefragt werden. Dann soll die Überstellung "ohne Rückübernahmeersuchen beziehungsweise ohne schriftliche Mitteilung" erfolgen. Immerhin: Die Kosten für die Rückführung bis zur marokkanischen Grenze soll das betreffende EU-Land tragen.

Unklar ist, inwieweit Marokko bereit ist, sich auf diese Bedingungen einzulassen. Nach Angaben der EU-Kommission laufen derzeit Gespräche "auf Arbeitsebene". Klar ist auch, was ihnen zum Erfolg verhelfen soll: Geld. "Für umsonst", meint ein EU-Diplomat, "spielen die Nordafrikaner nicht mit."

In Spanien hat man das erkannt. Mitte Juli überwies die Regierung in Madrid 30 Millionen Euro nach Rabat, als Hilfe im Kampf gegen illegale Migration. Zwei Wochen zuvor hatte sie bereits eine 26 Millionen Euro schwere öffentliche Ausschreibung für den Ankauf von Ausrüstung genehmigt, die sodann an Marokko "gespendet" werden sollte. Darunter waren laut einem Bericht der Zeitung "El País" 750 Fahrzeuge, 15 Drohnen und zahlreiche weitere technische Geräte zur Grenzkontrolle.

Hunderte Millionen Euro für Marokko

Aus Brüssel hat Marokko noch deutlich mehr bekommen. Seit 2014 hat die EU nach Angaben der Kommission 232 Millionen Euro im Zusammenhang mit Migration gezahlt, allein im vergangenen Jahr flossen 148 Millionen Euro für diverse Grenzmanagement- und Anti-Schleuser-Programme.

Doch Geld allein dürfte Marokko kaum dazu bewegen, dem ehrgeizigen Rücknahmeabkommen zuzustimmen. "Dazu müsste es das konkrete Versprechen der Visaliberalisierung geben, wie sie die EU auch der Ukraine gewährt hat", sagt Gerald Knaus, Chef der Europäischen Stabilitätsinitiative (Esi). Das zeige sich auch am EU-Flüchtlingspakt mit der Türkei, den Knaus maßgeblich mitentworfen hat: "Ankara hat das Angebot der EU erst ernst genommen, als die Visaliberalisierung auf dem Tisch lag."

Zwar gab es im Juni 2019 eine gemeinsame Erklärung, in der die EU Marokko unter anderem Verbesserungen bei der legalen Migration und der Visaerteilung in Aussicht stellt. Doch seitdem hat es nach Angaben von Diplomaten keine größeren Fortschritte gegeben. "Und solange die EU Marokko keinen konkreten Visafahrplan anbietet, meint sie es nicht ernst", sagt Knaus.

"Die EU hat nichts gelernt"

Die Motivation Marokkos zur Zusammenarbeit ist nicht das einzige Problem am geplanten EU-Abkommen. Ein anderes sind laut Knaus die Asylverfahren in Spanien. Die meisten Migranten, die aus Marokko gekommen sind, hätten in Spanien bislang gar keine Asylanträge gestellt, weil sie ohnehin nicht zurückgeschickt werden. Das würde sich schnell ändern, sollte Marokko zur Rücknahme bereit sein.

"Wenn alle, die übers Meer nach Spanien kommen, dort einen Asylantrag stellten, wäre das spanische System auf Jahre ausgelastet", so Knaus. "2018 kamen 60.000, und die Asylbehörde traf 12.000 Entscheidungen." Die wiederum führten nach Zahlen der EU-Statistikbehörde Eurostat zu nur rund 7000 Abschiebungen. Ein Abkommen über die Rückführung von Drittstaatsangehörigen nach Marokko sei deshalb "ohne Reformen im spanischen Asylsystem und Hilfe der EU nicht umsetzbar", meint Knaus.

Und das gelte nicht nur für Spanien. Aus ähnlichen Gründen funktioniere auch die Rückführung in die Türkei noch immer nicht. "In den meisten Mitgliedsländern braucht es Jahre bis zu einer endgültigen Entscheidung", so Knaus. "Auf ein Abkommen mit Marokko zu setzen, das alle Lehren der letzten Jahre ignoriert, ist absurd." Der Entwurf zeige "eine EU, die bis jetzt nichts gelernt hat". Er sei "in seiner jetzigen Form sinnlos", sagt Knaus. "So lassen sich die irreguläre Migration und das Sterben im Mittelmeer nicht reduzieren."

Nur scheint es derzeit auch unwahrscheinlich, dass die EU sich in Sachen Visa und Asylsystem bewegt. Die groß angelegte Reform des EU-Asylsystems kommt seit Monaten nicht vom Fleck. Ein Grund: In dem Paket mit sieben Gesetzen soll auch die Verteilung von Asylbewerbern geregelt werden. Doch mehrere EU-Staaten weigern sich hartnäckig, darüber zu reden. "Sie wollen vorher sicher sein", meint ein EU-Diplomat, "dass sie abgelehnte Asylbewerber auch wieder loswerden."

spiegel


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