„Es gibt bis heute eine Teilung der europäischen Erinnerung, die sich darin niederschlägt, dass der Faschismus international war. Etliche EU-Staaten haben offenbar ein Problem damit, sich zu ihrer Vergangenheit in den 30er und 40er Jahren zu bekennen“, sagt Erich Später zu dem umstrittenen Dokument, das auf Initiative Litauens und mit Einsatz polnischer PiS-Politiker erarbeitet wurde. Unterstützt wurde die Resolution von über 530 Abgeordneten, lediglich 66 waren dagegen, weitere 52 Leute haben sich enthalten.
In der Resolution betont das EU-Parlament, dass der Zweite Weltkrieg als unmittelbare Folge des auch als 'Hitler-Stalin-Pakt' bezeichneten berüchtigten Nichtangriffsvertrags zwischen dem nationalsozialistischen Deutschen Reich und der Sowjetunion und seiner geheimen Zusatzprotokolle ausgebrochen sei, in deren Rahmen die beiden „gleichermaßen das Ziel der Welteroberung verfolgenden totalitären Regime“ Europa in zwei Einflussbereiche aufgeteilt hätten.
Russland wird weiter vorgeworfen, „historische Tatsachen zu verfälschen und die vom totalitären Regime der Sowjetunion begangenen Verbrechen schönzufärben“. Man betrachte dies als eine gefährliche Komponente des Informationskrieges gegen das demokratische Europa, der auf die Spaltung des Kontinents abziele, so die Abgeordneten. Die Europäische Kommission solle dem deswegen entschlossen entgegenwirken.
„Dummköpfe!“, reagiert Später auf diese Argumentation: „Die Ursache des Zweiten Weltkrieges liegt in der Expansion des weltweiten Faschismus seit 1931 begründet.“ Diese Zentriertheit auf Europa statt Argumenten findet der Historiker „fast schon provinziell“ und meint, man verwische damit den historischen Ort des Krieges und die Shoah.
„Zu Beginn des Krieges hatten selbst Rumänien, Ungarn und die baltischen Staaten ein autoritäres und antisemitisches Regime; sie haben zusammen mit den deutschen, aber auch italienischen und spanischen Truppen in Europa den Krieg mitgeführt und die Sowjetunion überfallen“, so Später.
Um den Stalinismus zu analysieren, muss man sich laut Später die Sowjetunion angucken, aber um den Zweiten Weltkrieg zu beurteilen, sollte sich jeder zunächst in Polen, Ungarn und Rumänien vor der eigenen Haustür gucken. Laut „Radio Polen“ strichen die Abgeordneten vor der Abstimmung einige selbstkritische Punkte wie das Münchner Abkommen 1938. „Polen hat sich ja an der Aufteilung der Tschechoslowakei mit Einverständnis Grossbritanniens beteiligt“, erklärt Später.
„Wer hat diese Abgeordneten nur gewählt?“, fragt der russische Top-Historiker Valeri Samulin, der einen „Welt“-Journalisten für dessen Artikel über die Schlacht um Prochorowka kürzlich zusammenstauchte, nach der Lektüre der Resolution. Im Sputnik-Gespräch weist er darauf hin, dass ihre Urteile von den historischen Realitäten weit entfernt seien: „Sie sollen gut gebildet sein, machen aber den Eindruck, als hätten sie nicht studiert. Den Molotow-Ribbentrop-Pakt muss man wissenschaftlich gesehen in einer Reihe mit anderen Pakten und Ereignissen jener Zeit betrachten. Bei diesem Ansatz wird einem klar, dass Stalin für den Schutz des eigenen Landes kaum hätte anders handeln können.“
Der Experte erinnert weiter, dass Hitler den Polenfeldzug lange zuvor geplant habe. Die sowjetische Führung habe dabei lediglich jene Territorien des ehemaligen Russischen Reiches „zurückgenommen“, die Polen sich nach dem polnisch-russischen Krieg 1920 einverleibt hätte, und zwar streng nach der Curzon-Linie. Die Teile, die zuvor nicht zum Russischen Reich gehört hätten, habe sie dem Baltikum übergeben.
Dass diese „500 Kilometer“ zwei Jahre später eine wichtige Rolle gegen den Blitzkrieg-Plan Hitlers spielten, gibt auch Später zu. Den eigentlichen großen Fehler der sowjetischen Führung sieht Später nicht unbedingt an der Übernahme der Territorien, sondern an der Unterdrückung der Bevölkerung.
„Eine Wissenschaft und kein Holz zum Drechseln von beliebigen Figuren“
Samulin gibt seinerseits zu, dass die ganze Rhetorik rund um den Pakt samt Hoffnungen auf „Freundschaft“ des deutschen und der sowjetischen Völker aus heutiger Sicht „zu viel“ gewesen sei. „Nur konnte die sowjetische Führung damals angesichts des Münchner Paktes, des Aufstieges der Wehrmacht sowie der geplatzten Verhandlungen mit den westlichen ‘Sicherheitsgaranten’ in Europa nicht zu den heutigen Kenntnissen greifen.“ Die Geschichte müsse man daher kontextuell behandeln und nicht aus der schönen friedlichen Zukunft heraus. Sie sei eine Wissenschaft und kein Holz zum Drechseln von beliebigen Figuren, so der Historiker.
In der Resolution zeigten sich die Abgeordneten weiter darüber besorgt, dass „es im öffentlichen Raum einiger Mitgliedstaaten noch immer Denkmäler und Gedenkstätten gibt, die totalitäre Regime verherrlichen, was der Verfälschung historischer Tatsachen über die Ursachen, den Verlauf und die Folgen des Zweiten Weltkrieges Tür und Tor öffnet“. Tatsächlich geht es um die sowjetischen Denkmäler für die gefallenen Soldaten der Roten Armee, die seit einigen Jahren in Polen und im Baltikum abgerissen werden.
Allein für die Befreiung Polens vom Faschismus hatten laut Samulin 2.113.460 Menschen „aus dem Osten“ (die mit dem roten Sternchen) von Juli 1944 bis März 1945 ihr Leben verloren. Die Leute „aus dem Westen“ (die mit dem schwarzen Hakenkreuz) hätten dagegen sechs Millionen Juden verbrannt, das Warschauer Ghetto errichtet und Krakau beinahe zugrunde gerichtet.
„Ich habe die Befehle der beiden Weißrussischen und der Ukrainischen Front der Roten Armee gelesen. Man durfte die Städte Polens nur so bombardieren, dass das polnische Kulturerbe und die Architektur geschont wurde. Man glaubte, dass man nicht nur die Polen rettet, sondern auch ihr Erbe, damit die Leute da noch ihre Sehenswürdigkeiten weiter genießen können.“
„Ohne die antifaschistische kommunistische Bewegung hätte es 1945 keine Juden mehr gegeben, ich kenne viele jüdische Familien, die ihre Rettung der Roten Armee verdanken“, fügt Später hinzu. „Dafür rehabilitiert Polen heute rund 80.000 polnische NSZ-Soldaten, die mehr Juden und Sowjets ermordeten als Deutsche, und nimmt sie in die nationale Überlieferung als Widerstandskämpfer auf. Man verabschiedet noch ein Gesetz dazu, wonach jeder strafrechtlich verfolgt werden kann, der die unzweifelhafte Unterstützung der Shoah durch große Teile der polnischen Rechten anspricht.“ Im Hintergrund behaupte man dazu noch, dass die Rote Armee nur zugeguckt hätte, als der Warschauer Aufstand niedergeschlagen wurde. Dass dies nicht stimmt, bewies Später kürzlich in seinem Beitrag für eine Reihe der Regionalzeitungen im Rhein- Main Gebiet. Mit solchen Resolutionen würden die EU-Abgeordneten nur das Vertrauen ihrer Wähler untergraben, die offenbar nicht so dumm seien, wie sie eingeschätzt werden, schließt Samulin.
sputniknews
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