Prag am 30. September 1989: Die Lage vor dem Palais Lobkowicz, in dem die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der CSSR untergebracht ist, ist äußerst angespannt. Rund 5000 DDR-Bürger harren dort aus. Sie wollen nur noch in den Westen. Eine Rückkehr in ihre Heimat steht für die Menschen nicht mehr zur Debatte, sie haben mit ihrem Staat abgeschlossen.
Es hat sich in der DDR herumgesprochen, dass Ungarn seit dem 11. September keine Flüchtlinge mehr an den zweiten deutschen Staat ausliefert. Eigentlich ist das ein Grund zur Freude. Aber für viele Menschen ist dies auch ein Alarmsignal, weil sie befürchten, dass die SED-Führung die Grenze ins sozialistische Ausland generell sperren wird und die DDR damit endgültig zu einem Gefängnis wird. So strömen Tausende in die näher gelegene Tschechoslowakei, um über Prag den Weg nach Westdeutschland anzutreten.
Jeden Tag kommen Hunderte Menschen in die Prager Botschaft. Sie werfen ihr Gepäck oder heben Kinderwagen über den Zaun, danach überwinden sie ihn - sich dabei gegenseitig helfend. Tschechoslowakische Sicherheitskräfte versuchen, die DDR-Bürger davon abzuhalten. Sie kommen aber nicht gegen die Menschenmassen an und werden überrannt.
Schewardnadse hilft Genscher
Auch die Botschaftsmitarbeiter sind überfordert. Nicht nur, dass der Botschaftsgarten durch die zu dieser Zeit ergiebigen Regenfälle einer Schlammwüste gleicht. Auch im Gebäude herrschen unhaltbare hygienische Zustände. Sanitäre Einrichtungen sind rar, Büros müssen für die Unterbringung der Flüchtlinge geräumt werden. Ein regulärer Arbeitsbetrieb ist im Palais Lobkowicz unmöglich.
In Bonn sucht die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl eine schnelle Lösung der Flüchtlingskrise. Bereits seit dem Sommer wird mit der DDR-Seite verhandelt. Die Führung in Ost-Berlin schickt den renommierten Rechtsanwalt Wolfgang Vogel in die tschechoslowakische Hauptstadt. Er unterbreitet den Vorschlag, dass die Flüchtlinge zurück in die DDR kommen sollten, wo dann ihre Ausreiseanträge geprüft würden - "wohlwollend", wie es hieß. Dieses Angebot stößt natürlich auf entschiedenen Widerstand seitens der Geflüchteten.
Also ist die hohe Diplomatie gefragt. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher will die Problematik am Rande der UN-Generaldebatte in New York mit seinem DDR-Kollegen Oskar Fischer erörtern. Doch der Ost-Berliner Chefdiplomat verweigert ein Gespräch mit dem FDP-Politiker darüber, wohl auch, weil er von der SED-Führung kein Mandat dafür erhalten hat. Genscher ist dadurch gezwungen, den sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse in die Problematik einzubeziehen. Dieser stellt Genscher die Frage, ob auch viele Kinder unter den Flüchtlingen seien. Als der Bundesaußenminister bejaht, ruft Schewardnadse Moskau an. Von dort aus bekommt er grünes Licht. "Er (Schewardnadse - d.R.) war für mich ein persönlicher Freund, der die Zeichen der Zeit verstanden hatte, und der zusammen mit Gorbatschow den Weg geöffnet hat für die Überwindung der Teilung Deutschlands", sagt Genscher Jahre später.
"Wir sind zu Ihnen gekommen, um ..."
So kommt es am Abend des 30. September 1989 zur historischen Szene auf dem Prager Botschaftsbalkon. Genscher, der von Kanzleramtsminister Rudolf Seiters begleitet wird, spricht den wohl berühmtesten Halbsatz der jüngeren deutschen Geschichte: "Liebe Landsleute, wir sind zu ihnen gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise ..." Der Rest ist nicht mehr zu hören. Der Jubel der Tausenden ist ohrenbetäubend.
Doch wie kommen die Flüchtlinge nun von Prag in den Westen? Die Führung in Ost-Berlin verlangt, dass die Flüchtlinge mit Zügen über das DDR-Territorium ins fränkische Hof gebracht werden. Diese Nachricht sorgt bei den Betroffenen für große Empörung. Sie fürchten, dass ihr Zug bei der Durchfahrt durch die DDR angehalten wird und sie zum Aussteigen gezwungen werden. Genscher muss eine Lösung finden, um die Menschen in die Züge zu bekommen. Er gibt ihnen sein Wort, dass sie unbehelligt in die Bundesrepublik kommen. Zudem fahren in jedem Zug westdeutsche Diplomaten mit.
Unruhen in Dresden und Gleisblockaden
Aber das ist nicht das einzige Problem. Das starrsinnige Beharren der Ost-Berliner Führung auf die Durchfahrt der Züge durch die DDR sorgt für Unruhen im eigenen Land. So versuchen zum Beispiel viele Menschen in Dresden auf die fahrenden Züge aufzuspringen. In der Elbmetropole kommt es Anfang Oktober um den Hauptbahnhof herum zu schweren Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften. Steine fliegen, Polizeiwagen werden umgestürzt und brennen aus, die Türen zum Bahnhofsgebäude werden zum Teil eingedrückt. Es gibt viele Verletzte, fast 250 Personen werden festgenommen. Der Fernverkehr von und nach Dresden kommt zeitweise zum Erliegen.
Auch in anderen DDR-Städten gehen die Menschen auf die Straßen. Entlang der Bahnstrecke zur Tschechoslowakei werden die Gleise besetzt und der Zugverkehr unterbrochen. In Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) blockieren 120 Demonstranten den dortigen Hauptbahnhof. In den thüringischen Städten Eisenach und Ruhla kommt es zu Arbeitsniederlegungen.
Und der Flüchtlingsstrom schwillt weiter an. Nach der Abfahrt der Tausenden Menschen aus Prag füllt sich das Botschaftsgelände erneut. Kurz vor dem 40. Republikgeburtstag am 7. Oktober bringt die SED-Spitze um Erich Honecker noch mehr Menschen gegen sich auf. Nach Gesprächen mit der kommunistischen Führung in Prag wird die Grenze zur CSSR zeitweise geschlossen. Damit ist eine Ausreise aus der DDR für kurze Zeit unmöglich. Es ist die moralische Kapitulationserklärung eines abgewirtschafteten Regimes.
Quelle: n-tv.de
Tags: