1998 wurde Natascha Kampusch im Alter von zehn Jahren auf dem Schulweg von dem arbeitslosen Nachrichtentechniker Wolfgang Přiklopil entführt. Während die Polizei mit einer großangelegten Suche nach dem Verbleib des kleinen Mädchens fahndete, begann für Natascha Kampusch ein Martyrium, das acht lange Jahre andauern sollte. Gefangen in einem winzigen Kellerverlies, war die Wienerin der Willkür ihres Peinigers hilflos ausgeliefert. Als ihr 2006 im Alter von achtzehn Jahren schließlich die Flucht gelang, wurde ihr Fall zu einer riesigen Sensation und sorgte weltweit für Schlagzeilen.
Auch heute, dreizehn Jahre nach ihrer Selbstbefreiung, wird die junge Frau in Interviews, Talkshows und im Netz auf ihre Entführung und die traumatischen Kindheitserlebnisse in der Gewalt von Wolfgang Přiklopil angesprochen. Offenbar sei die Neugierde der Leute noch immer nicht vollständig gestillt und es gebe noch Dinge, die sie über ihre Entführung und Gefangenschaft wissen wollten, so Kampusch. Zu 100 Prozent werde sie die Details ihres Martyriums aber sowieso niemals verraten. Die ständigen Nachfragen würden viele schmerzhafte Erinnerungen zurückholen, aber sie wisse das inzwischen „innerlich gut zu verwalten“.
Doch es ist nicht bei neugierigen Nachfragen geblieben. Waren in den ersten Wochen nach ihrer Selbstbefreiung die Anteilnahme und das Mitgefühl mit der jungen Frau noch groß, begann sie bald auch die Kehrseite ihrer Bekanntheit zu spüren: Demütigungen, Hassbotschaften, Morddrohungen. Den einen passte nicht, dass Kampusch bei ihrem ersten Fernsehinterview lächelte, statt gebrochen und zerstört zu wirken. Andere unterstellten, sie habe ihre eigene Entführung inszeniert. Dritte kritisierten sie für ihre Figur.
„Für mich waren die schlimmsten jene, in denen stand, dass man mich lieber tot als lebendig sehen würde. Dass ich die Entführung und meine Gefangenschaft als gar nicht so tragisch gefunden hätte. Dass mir all das sogar Spaß gemacht hätte. Dass mich meine Familie hassen würde und dass man mich gar nicht zurückhaben wollte… derartige Verleumdungen haben mich am meisten verletzt“, erinnert sich Natascha Kampusch in ihrem neuen Buch.
„Cyberneider – Diskriminierung im Internet“ heißt ihr knapp 200 Seiten starkes Werk. Nach ihrer Autobiografie (2010) und „Natascha Kampusch: 10 Jahre Freiheit“ (2016) ist es das dritte Buch, das die Wienerin verfasst hat. Inhaltlich geht es um die hässlichen Seiten des Internets. Um Diskriminierung, Rassismus, Hassbotschaften, Mobbing, die Herabwürdigung von Frauen und Aufrufe zur Gewalt. Als ein prominentes Mobbing-Opfer im Netz kann Kampusch auf reichlich eigene Negativ-Erfahrungen zurückgreifen.
„Diese ganzen Mobber im Internet sind oft einfach sensationslustige Menschen. Es sind aber häufig auch misogyne Männer, die eher mit dem Entführer sympathisieren. Das ist schon etwas, was einem ein bisschen Angst macht, weil man sich denkt, es gebe nur noch solche Männer auf dieser Welt. Sie leben alle unter uns, im Geheimen, und sind im Internet aktiv“, so Kampusch gegenüber Sputniknews.
Was Menschen, online wie offline, und auch schon in sehr jungen Jahren dazu bringe, andere demütigen und verletzen zu wollen?
„Ich denke, diese Menschen werden dadurch bewegt, dass sie ganz einfach Neid empfinden oder irgendeine Art Ungleichgewicht, das sie dann ausgleichen wollen. Es geht darum, seine vermeintliche Stärke zu demonstrieren. Oft weiß man ja nicht, was in den Herkunftsfamilien der Kinder los ist, warum sie dann auf andere einschlagen. Im Grunde genommen ist es im Internet genauso schlimm und gravierend. Es ist zwar keine physische Gewalt, aber oft genug wird im Internet zu physischer Gewalt aufgerufen. Die Leute verabreden sich dazu, jemanden zu verprügeln, oder machen der Person eine solche Angst, dass diese in einen Unfall verwickelt wird oder sich selbst das Leben nehmen möchte.“
Bei den eigenen Erfahrungen lässt sie es in ihrem Buch aber nicht bewenden, sondern führt eine Reihe von anderen prominenten Beispielen an, die auf Social Media Plattformen Hasskampagnen ausgesetzt waren, seien es Facebook, Instagram, YouTube oder Twitter. Und Kampusch zeigt auch, wie die jeweiligen Mobbing-Opfer mit ihrer Situation und ihren Angreifern umgegangen sind. Die Palette ist breit und reicht von Ignorieren, Blockieren oder Melden, über Gegenangriff und Anzeigen bei der Polizei, bis zum Versuch, mit den Verfassern der Hassbotschaften das direkte Gespräch zu suchen, ihre Motivation nachzuvollziehen und ihre Gründe für die negativen Emotionen womöglich zu entkräften. Ein Patentrezept gibt es nicht. Für sich habe sie die richtige Strategie gefunden, so Kampusch, sie stehe aber weiterhin in engem Kontakt mit anderen Mobbing-Opfern, um sich gegenseitig Unterstützung zu geben und vielleicht auch neue Lösungswege herauszuarbeiten.
Doch mit Eigeninitiative sei dem Problem nicht beizukommen. Kampusch sieht vielmehr Politik, Plattform-Betreiber und Justiz in der Pflicht.
„Meine Idee wäre, dass man in der Verfolgung von Hass-Postings den Foren, beispielsweise von Online-Zeitungen, beisteht. Dass sie nicht von sich aus mit den Hasskommentaren und Drohungen zurechtkommen müssen, sondern dass es eine Behörde gibt, die sich damit auseinandersetzt und das nachverfolgt. Damit die Opfer nicht ständig selbst aktiv werden müssen, womöglich teuer Anwälte einstellen und selbst gar nicht durchdringen zum Täter“, erklärt die Autorin im Interview.
In ihrem Buch beklagt sie, dass die Strafverfolgung von Online-Mobbern bisher kaum greift und die meisten Täter ungeschoren davonkommen. Das liege auch daran, dass Hasskommentare nicht immer zweifelsfrei einem bestimmten Verfasser zugeordnet werden können. Obwohl Kampusch Datenschutz und Meinungsfreiheit am Herzen liegen und sie gegen Zensur im Internet ist, kann sie sich in solchen Fällen eine Lockerung der Datenschutzbestimmungen vorstellen.
„Es ist eine problematische Sache, weil auch politisch verfolgte Menschen unter falschem Namen posten. Aber man kann ja auch Bedingungen an die Sache knüpfen und sagen: Wenn es beispielsweise zu volksverhetzenden Äußerungen kommt, die in Europa strafbar sind, lockert man die Bestimmungen und gibt die Daten frei. Das muss sich aber erst im Prozess entwickeln, und da wären eben die Regierungen und die Online-Plattform-Betreiber angehalten, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.“
Trotz der vielen Anfeindungen ist die 31-Jährige kontaktfreudig, offen und in den sozialen Medien sehr aktiv, vor allem bei Twitter und Instagram. Und auch im richtigen Leben hat Natascha Kampusch der Isolation und Misshandlung während ihrer Gefangenschaft, dem Medienrummel um ihre Person und den Hasskommentaren und Drohungen zum Trotz ihr Vertrauen in die Menschen nicht verloren. Sie hat keine Angst, Menschen an sich heranzulassen und neue Freundschaften einzugehen. Auswirkungen hat ihre Biographie aber auch in puncto menschliche Bindungen:
„Mir ist aufgefallen, dass viele Menschen Freundschaften und Beziehungen relativ leichtfertig eingehen, ohne um die Gesinnung und Geisteshaltung des Gegenübers Bescheid zu wissen. In meinem Fall ist es so, dass aufgrund meiner Geschichte viele Leute, die generell den locker-leichten, oberflächlichen Kontakt haben wollen, von vornherein wegfallen – es sei denn, sie interessieren sich für mein Bekanntsein. Diese Leute weichen meist jedoch von selbst, weil sie wissen, dass sie mit mir dieses Oberflächliche nicht bekommen können. Weil ich einerseits so viel Erfahrung gesammelt habe, und weil sie selbst mit dem, was sie sich in ihrem Kopfkino vorstellen, nicht klarkommen.“
Der Zukunft sieht Natascha Kampusch optimistisch entgegen. Sie wolle weiterhin den aktiven Diskurs mit anderen Menschen pflegen und sich in verschiedenen Richtungen engagieren – natürlich auch weiter als Autorin, betont sie im Interview.
„Vielleicht kommt auch noch das eine oder andere Hilfsprojekt zustande – das würde mich sehr freuen.“
sputniknews
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