Alle Welt giert nach gigantischen Geländewagen. Alle Welt? Nein - ein paar japanische Metropolen leisten dem SUV-Trend erbitterten Widerstand. Wer sich im Zentrum von Tokio, Osaka oder Hiroshima bewegt, begegnet dort statt riesigen Pseudogeländewagen lauter Autos, die aussehen, als wären sie geschrumpft worden: so genannte Kei-Cars - Kleinstwagen mit Mini-Abmessungen und Mini-Motörchen.
Während man im Rest der Welt die automobilen Winzlinge höchstens lächeln würde, sind sie in den japanischen Großstädten oftmals die einzige Möglichkeit, überhaupt mobil zu sein. Erstens, weil nicht nur der Besitz, sondern auch der Unterhalt und vor allem der Unterstand halbwegs bezahlbar sind. Und zweitens, weil es selbst in geschäftigen und modernen Zentrumslagen wie um die Prachtstraße Ghinza in Tokio genügend Gassen gibt, die so schmal sind, dass man mit einem normalen Auto überhaupt nicht durchkommt.
In weiten Teilen der Bevölkerung sind die Kei-Cars als vollwertige Autos akzeptiert. Oft sind sie ausgestattet wie Luxus-Limousinen: Vorhang-Airbags oder ESP sind mittlerweile Standard, Extras wie die Klimaautomatik, Lederpolster oder Navi-Monitore im Heimkino-Format keine Seltenheit. Von elektrischen Schiebetüren und variablen Sitzlandschaften ganz zu schweigen.
Die Kategorie der Kei-Cars ist im Übrigen keine neue Erscheinung und auch keine Reaktion auf Klimawandel und Urbanisierung. Stattdessen folgt sie in gewisser Weise japanischer Tradition: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schon führte die Regierung das sogenannte die Kei-Ji-Dou-Sya, das Leichtbauauto, ein. Damals ging es vor allem um eine Art der Wirtschaftsförderung und darum, dass auch weniger vermögende Japaner von zwei auf vier Räder aufsteigen können sollten.
Heute dürfen diese Autos in der aktuellen Version des Gesetzes nicht länger als 3,40 Meter sein, eine Breite von 1,48 Metern nicht übertreffen, nicht mehr Hubraum als 660 Kubikzentimeter haben und nicht mehr leisten als 64 PS. Autos, die diese Kriterien erfüllen, erhalten eine Steuervergünstigung, man zahlt für sie weniger Maut auf den Stadtautobahnen und den Schnellstraßen draußen im Land, die Parkgebühren sind geringer und in vielen Städten muss man für ein Kei-Car keinen eigenen Stellplatz nachweisen, um das Auto zugelassen zu bekommen.
Diese Form von Fordern und Fördern kommt offenbar an. Die an einem speziellen Nummernschild zu erkennenden Kei-Cars machen längst einen gewaltigen Teil des Automarktes aus: 2016 zum Beispiel waren über 30 Millionen Minis in Japan registriert, was knapp 40 Prozent des gesamten Fahrzeugbestands entspricht, aktuell liegt ihr Verkaufsanteil auf einem ähnlichen Niveau.
Auch das meistverkaufte Auto in Japan ist deshalb kein klassischer Pkw, sondern ein Kei-Car. Während der Toyota Prius nämlich als angeblicher Bestseller im ersten Halbjahr 2019 auf rund 70.000 Zulassungen kommt, hat der Honda N-Box als erfolgreichstes Kei-Car im gleichen Zeitraum über 130.000 Kunden gefunden. Und auch die nächsten drei Kei-Cars auf der Bestseller-Liste, der Suzuki Spacia, der Daihatsu Tant und der Nissan Days liegen noch vor dem Prius.
Angesichts des großen Volumens hat sich für die Kei-Cars längst ein Markt im Markt entwickelt, der etliche Nischen bedient. Zwar geht es bei den meisten Kei-Cars um maximale Raumausnutzung. Die bestverkauften Modelle sind deswegen Micro-Vans mit nahezu senkrechten Seitenwänden, großen Schiebetüren und allenfalls einem kleinen Stupsnäschen als Motorhaube. Doch neben diesen rollenden Schuhschachteln gibt es auch alle anderen Spielarten des Karosseriebaus: sportliche Roadster, Limousine - sogar Geländewagen im Winz-Format.
Entsprechend viel Raum nehmen die Minis auch auf der Motorshow in Tokio ein - und entsprechend bunt und verspielt ist das Ausstellungsprogramm, das hier in der Bildergalerie zusammengefasst ist.
Nicht Studien wie der Lexus LF30 oder die nächste Generation des Toyota Mirai, sondern Spielzeugautos wie der Suzuki Waku oder der neue Daihatsu Copen sind die heimlichen Stars der Show. Nur zwei japanische Marken machen da nicht mit: Mazda, ohnehin immer nur mit Lizenzprodukten zumeist von Suzuki im Kei-Car-Markt vertreten, hat sich vor einigen Jahren aus diesem Segment ganz zurückgezogen und Toyota überlässt das Geschäft lieber der Schwestermarke Daihatsu.
Angesichts immer vollerer Innenstädte und immer dickerer Luft wären die Kei-Cars womöglich auch eine Lösung für die Verkehrsprobleme außerhalb Japans. Doch so richtig erfolgreich lassen sich diese Winzlinge im Rest der Welt offenbar nicht etablieren. Zumal sie dafür nicht nur andere Crash- und Schadstoffnormen erfüllen, sondern für den Einsatz im Rechtsverkehr auch auf Linkslenker umgebaut werden müssten - und das sind Investitionen, die Nissan, Suzuki & Co angesichts der niedrigen Stückzahlerwartungen offenbar scheuen. Nicht umsonst zum Beispiel hat sich Daihatsu mit seinem Mini-Coupé Copen auch aus diesem Grund komplett vom europäischen Markt zurückgezogen.
Ganz müssen die Europäer trotzdem nicht auf die Kei-Cars verzichten. Vor allem über den englischen Markt gelangen immer mal wieder Grauimporte auf den Kontinent und zumindest der Suzuki Jimny wird bei uns ja ganz offiziell angeboten. Allerdings hätte die europäische Version daheim in Japan keine Chance: Um den Europäern den Winzling überhaupt schmackhaft zu machen, wurde ihm ein neuer Vierzylindermotor eingepflanzt. Bei uns mit 1,5-Litern für die meisten SUV-Fahrer noch immer ein Winzling, ist der für Japan wieder schon viel zu groß.
spiegel
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