Griechisches Flüchtlingschaos setzt EU unter Druck

  31 Dezember 2019    Gelesen: 480
Griechisches Flüchtlingschaos setzt EU unter Druck

Die Zustände in griechischen Flüchtlingslagern zeigen, wie dringend ein Neustart in der EU-Migrationspolitik ist. Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat ein Reformpaket angekündigt - wie könnte es aussehen?

Die Nachrichten über das dramatische Schicksal der Flüchtlinge in den Lagern auf griechischen Inseln reißen nicht ab. Über die Weihnachtstage kamen erneut mehr als 200 Migranten in Schlauchbooten an, insgesamt leben in den sogenannten Registrierungslagern auf Inseln wie Lesbos nun mehr als 42.000 Menschen. Geplant waren die Lager einmal für 7500 Personen.

Berichte über menschenunwürdige Bedingungen in den Lagern verstärken den Druck auf die EU, sich endlich zu einer grundlegenden Reform des Asylsystems aufzuraffen. "Ich habe in den vergangenen Monaten mit vielen Staats- und Regierungschefs gesprochen", sagte die neue Kommissionschefin Ursula von der Leyen dem SPIEGEL und kündigte ein Reformpaket für das kommende Frühjahr an: "Mein Eindruck ist: Alle wollen raus aus dieser Blockadesituation".

Doch das ist einfacher gesagt als getan.

Seit Start der neuen Kommission im Dezember reisen der für die Migration zuständige Vizepräsident Margaritis Schinas und Innenkommissarin Ylva Johansson durch die EU-Hauptstädte. Mitte Dezember trafen sie in Berlin auch Bundesinnenminister Horst Seehofer.

"Einfach unfair für besonders exponierte Länder"

Ihr Ziel ist es, ein Reformpaket vorzulegen, dem alle EU-Länder zustimmen können. Im Zentrum soll dabei unter anderem die Reform des Dublin Systems stehen, wie von der Leyen sagt. "Das System von Dublin, wonach die Staaten, in denen Flüchtlinge ankommen, alleine für Asylverfahren und Unterkunft zuständig sind, ist einfach unfair für besonders exponierte Länder wie Italien, Spanien oder Griechenland."

Mit dieser Erkenntnis beginnen die Probleme allerdings erst. Die Frage, wie Flüchtlinge verteilt werden sollen, die in Italien oder Griechenland ankommen, hat die EU in den vergangenen Jahren stärker gespalten als jedes andere Thema. Einen entsprechenden Beschluss der Mehrheit der EU-Innenminister im September 2015 ignorierten Ungarn, Polen und Tschechien. Später wurde die Sache sogar ein Fall für den Europäischen Gerichtshof.

Jeder weitere Anlauf zur Reform des Dublin-Systems scheiterte in der Folge auch daran, dass vor allem Deutschland lange Zeit nicht komplett auf die Forderung verzichten wollte: Jedes EU-Land müsse im Notfall bereits sein, zumindest eine gewisse Zahl an Flüchtlingen aufzunehmen.

Von der Leyen betont nun, dass sie nichts davon hält, Ungarn oder anderen osteuropäischen Staaten eine bestimmte Form der Flüchtlingspolitik aufzuzwingen. "Wir werden das Problem nicht lösen, indem wir versuchen, einzelne EU-Mitgliedstaaten mit Brachialgewalt zu etwas zu zwingen", sagt die Kommissionschefin.

Kommt die "alternative Form der Solidarität"?

Und nun? Sicher ist, dass das Reformpaket so umfassend sein soll, dass jeder EU-Staat darin etwas für sich findet. Italien und Griechenland sollen nicht mehr allein für die an ihren Küsten ankommenden Flüchtlinge zuständig sein, Viktor Orbán und einige CSU-Hardliner können den bereits beschlossenen Aufbau der Grenzschutztruppe Frontex als Erfolg feiern, so die Idee im Grundsatz.

Auch ein Konzept des Bundesinnenministeriums, für das Seehofer beim Treffen der EU-Innenminister Anfang Dezember warb, könnte Teil der Lösung sein. Es sieht vor, dass bereits an den EU-Außengrenzen geprüft werden soll, welche Flüchtlinge Aussicht auf Schutz haben. Fällt das Ergebnis negativ aus, soll Frontex bei der Rückführung helfen, andernfalls sollen die Flüchtlinge in einem EU-Land einen Asylantrag stellen können.

Die zuständigen EU-Kommissare lobten die Idee, auch wenn die Frage weiterhin ungelöst ist, was passiert, wenn sich einzelne EU-Länder weigern, Migranten mit Schutzanspruch aufzunehmen.

Denkbar ist, dass ein Konzept ein Comeback feiert, das vor allem die Deutschen lange Zeit strikt ablehnten. Länder, die sich partout weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, könnten sich demnach durch sogenannte "alternative Formen der Solidarität" davon freikaufen, etwa indem sie mehr Geld zur Verfügung stellen oder mehr Grenzpolizisten.

Erst Konsens finden - dann Ideen vorstellen

Die Kommission will ihre Ideen, auch das ist in Brüssel zu hören, erst vorlegen, wenn sicher ist, dass alle EU-Länder mitmachen. Das ist ein Versuch, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Als Reaktion auf die Flüchtlingskrise im Herbst 2015 hatte die Kommission Jean-Claude Junckers viele gut gemeinte Reformvorschläge zur Flüchtlingspolitik vorgestellt - doch wegen des Widerstands einzelner EU-Mitglieder wurde nur aus den wenigsten etwas.

Nicht weniger schwer werden die Entscheidungen zur Flüchtlingspolitik, die den mehrjährigen Finanzrahmen betreffen, das Rahmenbudget der EU für die Jahre von 2021 bis 2027. Darauf muss sich die EU bis Ende 2020 einigen. Bislang sieht der Entwurf beispielsweise kein weiteres Geld im Rahmen des Türkeiabkommens vor, das Kanzlerin Angela Merkel im März 2016 mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan schloss. Im Kern zielt es darauf ab, die Einwanderung syrischer Flüchtlinge über die Türkei nach Europa einzuschränken. Die Türkei erhält Geld dafür, Flüchtlinge auf ihrem Staatsgebiet zu versorgen.

Solidarität in Asylpolitik soll bei Haushalt eine Rolle spielen

Die sechs Milliarden Euro, die die EU dafür bereitstellte, sind inzwischen komplett verplant, humanitäre Hilfe ist bis Mitte 2020 sichergestellt. Einzelne Projekte wie der Bau von Schulen oder Krankenstationen laufen bis 2024. Was danach kommt, ist offen. Wenn Merkel, wie die "Süddeutsche Zeitung" berichtete, Erdogan im Januar besucht, dürfte das Thema ganz oben auf der Agenda stehen. Merkel hatte bereits Mitte November klargemacht, dass man der Türkei für die Hilfe bei den 3,5 Millionen Flüchtlingen weiter finanziell helfen sollte. "Dazu wäre ich zum Beispiel bereit", sagte sie.

Die Verknüpfung der Flüchtlings- mit der Haushaltsfrage warf Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn kürzlich im SPIEGEL auf. Die Solidarität in Fragen wie der Asylpolitik solle "in die Verhandlungen um den nächsten Haushalt einbezogen werden", forderte er. Wer bei der Verteilung von Flüchtlingen nicht mitmacht, soll also weniger Geld aus dem EU-Topf bekommen.

Auch Merkel kann sich so eine Verknüpfung vorstellen. Die Kanzlerin warb bereits beim EU-Gipfel im März 2018 dafür, bei der Auszahlung etwa von EU-Strukturfördergeldern das Engagement vieler Städte und Regionen bei der Unterbringung und Verpflegung von Flüchtlingen stärker zu berücksichtigen.

Die Reaktion der anderen Staats- und Regierungschefs fiel damals zwar verhalten aus. Doch Merkel dürfte bald Gelegenheit haben, die Idee voranzutreiben: Im zweiten Halbjahr 2020, wenn der Rahmenhaushalt (und womöglich die neuen Migrationsgesetze) beschlossen werden sollen. Dann hat Deutschland die rotierende EU-Ratspräsidentschaft inne.

spiegel


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