Weihnachten gab es keinen, ebensowenig zu Silvester, bald ist auch der Januar um – und noch immer ist kein Schnee in Sicht. Allzu viel fällt in Berlin und Brandenburg ohnehin meist nicht, doch dieser Winter sticht heraus. Schnee, vielmehr dessen Fehlen, könnte künftig zur Regel werden. Mit bedeutenden Folgen für Mensch und Natur.
„In Mitteleuropa sind wir darauf konditioniert, dass es Jahreszeiten gibt und jeder hat eine Vorstellung davon, wie Winter zu sein hat: weiß“, sagt der Sachbuchautor Bernd Brunner, der sich in „Als die Winter noch Winter waren“ über 238 Seiten mit der besonderen Jahreszeit befasst. Für ihn hat Schnee durchaus eine „kulturelle Bedeutung“. Man denke nur an das Erwachen nach nächtlichem Schneefall: „Es ist viel leiser, weil er den Schall schluckt, und heller, weil er das Licht reflektiert, selbst in einer Mondnacht kann man recht gut sehen.“
Solche Momente, Spaß am Rodelhang, eine Wanderung in verschneiter Landschaft hielten sich viel besser in unserer Erinnerung als eine Aneinanderreihung grauer Tage und Wochen. „Auch in der Kunst spielt Schnee eine wichtige Rolle, beispielsweise in eindrücklichen Texten über weiße Massen und Schneeblindheit“, sagt Brunner. Bildliche Darstellungen begannen mit der Kleinen Eiszeit ab dem 16. Jahrhundert, vor allem durch flämische Maler. „Es ist offen, warum solche Bilder nicht früher entstanden. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass Winter schwerer darzustellen ist als ein bunter Sommertag.“
Wobei der Winter ja wider unsere Natur sei, wie Brunner erläutert. Unsere Vorfahren stammen aus den warmen Gebieten nahe des Äquators. „Infolge der Migration wurden sie, aus evolutionsbiologischer Sicht, in die winterkalten Regionen regelrecht hineinkatapultiert und mussten sich anpassen.“ Das habe viele Innovationen hervorgebracht: Warme Kleidung und Heizungssysteme, um der Kälte zu trotzen. Kufen aus Tierknochen und Schneeschuhe, um in der eisigen Landschaft voranzukommen. Später Skier und Snowboards mit raffinierten Schuhen und Bindungen, um das besondere Element Schnee zu genießen. Dazu kommen Liftanlagen, um die Abfahrten bequem erreichen zu können, und Schneekanonen, um den Spaß auch in milden Jahren zu ermöglichen.
Über Sinn und Unsinn des Kunstschnees wird seit langem diskutiert. Umweltschützer beklagen kahle Hänge, die im Sommer erosionsgefährdet sind und einen enormen Verbrauch an Wasser, das anderswo fehlt. Die Verwaltungen der oft strukturschwachen Regionen halten die ökonomischen Effekte des Tourismus dagegen. Es wird zunehmend schwierig, Argumente für die Millioneninvestitionen zu finden, weil es selbst für Kunstschnee immer häufiger zu warm ist.
Umso deutlicher ist der Schwund bei der natürlichen Schneedecke. Wie Forscher um Gerard van der Schrier vom Meteorologischen Institut der Niederlande in den „Geophysical Research Letters“ berichten, nahm die mittlere Schneehöhe in ganz Europa seit 1951 um rund zwölf Prozent pro Dekade ab. Die maximale Schneehöhe sank um elf Prozent je Dekade, wobei die Trends seit den 1980er Jahren beschleunigt wurden.
Der Verlust des Winters ist auch in den einzelnen Regionen zu beobachten. Für den Tagesspiegel hat der Deutsche Wetterdienst (DWD) Daten aus Berlin-Tegel zusammengestellt, die die Anzahl der Tage mit Frost sowie einer Schneehöhe von mindestens einem Zentimeter für jedes Jahr ausweisen (siehe Grafiken). Auch hier ist ein Rückgang erkennbar. Nicht überraschend, schließlich hat sich die mittlere Lufttemperatur in Deutschland laut DWD seit 1881 um 1,5 Grad erhöht. Mit fortschreitender Erwärmung dürfte es immer seltener Schnee geben, was auch das Wohlbefinden vieler Menschen beeinflusst.
„Schnee hat einen starken Effekt auf den Körper“, sagt Dieter Kunz von der Klinik für Schlaf- & Chronomedizin am Berliner St. Hedwig-Krankenhaus, und beginnt lebhaft zu erzählen von Skitouristen in den Alpen, die aus Eitelkeit auf eine Sonnenbrille verzichteten und ob der unzähligen Reflexionen an den Kristallen schneeblind wurden.Selbst Spaziergänger im verschneiten Berlin würden an einem sonnigen Tag die Augen kneifen und eine schützende Brille hervorkramen. „Die Helligkeit und die besondere Farbtemperatur des Tageslichts während eines Schneetages haben vermutlich weitreichende Effekte auf die Physiologie“, sagt er. Zwar stehe die Forschung noch am Anfang, doch Kunz führt einige Indizien zusammen, um seine These zu untermauern.
Es beginnt mit dem Tag-Nacht-Rhythmus, der unseren Vorfahren half zu überleben. Nachts ist es kalt, selbst in der Savanne. Wer den Körper rechtzeitig in einen Ruhemodus bringt, spart Energie, die er in Wärme investieren kann. „Und zwar nicht erst, wenn es tatsächlich kalt ist, sondern ein paar Stunden früher“, betont Kunz. Das übernahm die „innere Uhr“, der circadiane Rhythmus, gesteuert von den Lichtreizen des Tages.
Neben der allnächtlichen Energiesparphase entwickelten die Menschen auch eine saisonale, vor allem in höheren Breiten. Sie half, den kalten und nahrungsarmen Winter zu überstehen. Selbst heute, wo niemand mehr in einer Höhle lebt, sondern oft in urbanen Gegenden mit viel Kunstlicht, sei die saisonale Taktung vorhanden, sagt Kunz. „In einer Studie mit 100 Berlinerinnen und Berlinern im Arbeitsleben, allesamt kerngesund, schliefen diese im Winter im Schnitt eine Stunde länger als im Sommer“, berichtet er.Der Forscher vermutet, dass auch hier wieder die natürliche Tageslänge und die Farbtemperatur zentrale Steuerfaktoren sind. Für die Phase, wenn es in die Winterruhe hineingeht, habe er in einer Studie mit 25 Überwinterern in der Antarktis, deutliche Hinweise entdeckt: Fehlt Tageslicht, gerät die „innere Uhr“ rasch durcheinander, die Physiologie verändert sich und das Schlafbedürfnis nimmt zu. „Um aus dem Energiesparmodus wieder herauszukommen, braucht man wohl etwas länger, um die vier Wochen“, schätzt Kunz. Dafür lägen aber noch keine Daten vor.
tagesspiegel
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