Brexit war gestern

  09 Februar 2020    Gelesen: 731
Brexit war gestern

Weltoffen, schwul, indische Wurzeln: Leo Varadkar hat als Premier Irlands Image verändert. Ob er die Wahl gewinnt, ist fraglich. Seine couragierte Brexit-Politik spielt kaum noch eine Rolle.

Noch vor drei Jahren wirkte Leo Varadkar wie ein energischer Hoffnungsträger für Irland und Europa: Mit gerade einmal 38 Jahren wurde er zum jüngsten Premierminister in der irischen Geschichte. Er stand für das moderne Irland, machte sich für die gleichgeschlechtliche Ehe und das Recht auf Abtreibungen stark.

Im Ausland wurde er als ein irischer Emmanuel Macron oder Justin Trudeau gesehen. Doch zu Hause droht Varadkar am Samstag trotzdem eine Niederlage bei den Parlamentswahlen. Die jüngsten Umfragen zeigen, dass seine Partei Fine Gael nur auf dem dritten Platz liegt - hinter der traditionellen Konkurrenzpartei Fianna Fáil und hinter Sinn Féin.

Und das, obwohl Varadkar auf eine ziemlich erfolgreiche Zeit als irischer Regierungschef zurückblicken kann. Nachdem er den Posten als Premier von seinem Vorgänger Enda Kenny in einer parteiinternen Abstimmung übernommen hatte, führte er den Wirtschaftskurs seiner liberal-konservativen Partei konsequent fort. Die Folge:

Die irische Wirtschaft hat sich von der Immobilienkrise im Jahr 2008 vollständig erholt.
Die Arbeitslosigkeit liegt bei 4,8 Prozent, so niedrig wie seit 13 Jahren nicht mehr.
Auch in der Brexit-Krise machte er eine gute Figur und sicherte seinem Land die Unterstützung der EU. Er verhandelte souverän mit dem britischen Premierminister Boris Johnson und trotzte ihm eine Lösung ab, die eine harte Grenze und Zollkontrollen auf der irischen Insel verhindern soll.

Soziale Fragen dominieren den Wahlkampf
Doch die Wähler scheint das nun nicht mehr zu interessieren. "Die Partei Finn Gael hat absolut keinen Bonus davon bekommen, dass Varadkar das Brexit-Abkommen erfolgreich ausgehandelt hat", sagt Gary Murphy, Politikwissenschaftler von der Dublin City University.

Stattdessen stehen soziale Fragen bei vielen Wählern hoch auf der Agenda, vor allem der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und die Probleme des Gesundheitssystems treiben sie um. Die Wohnungsnot in Irland ist akut. In dem kleinen Land mit 4,9 Millionen Einwohnern gibt es mehr als 10.000 Obdachlose. Die Hauptstadt Dublin gehört inzwischen zu den zehn Städten mit den höchsten Mieten weltweit. Im Mai gingen Tausende Menschen in Dublin auf die Straße, um gegen steigende Immobilienpreise zu protestieren.

Besonders junge Menschen in Großstädten machen sich Sorgen, dass sie sich trotz guter Ausbildung und ordentlicher Jobs kein Eigenheim leisten können. Stattdessen müssen sie jahrelang einen Großteil ihres Einkommens für die Miete ausgeben. Aus diesem Grund könnte sich die junge urbane Mittelschicht nicht für den liberalen Star Varadkar, sondern für die Partei Sinn Féin entscheiden.
"Der Brexit interessiert sie nicht"

Die verspricht in den nächsten fünf Jahren 100.000 neue - und vor allem - bezahlbare Wohnungen zu bauen. Obwohl die Bauindustrie an der Umsetzbarkeit dieser Pläne zweifelt, kommt die Botschaft bei den Wählern gut an. "Ich sehe das bei Studenten auf dem Campus", sagt Gary Murphy. "Der Brexit interessiert sie nicht. Das Versprechen, billige Wohnungen zu bauen, ist ihnen viel wichtiger."

Die Kampagne von Sinn Féin war so erfolgreich, dass die Partei mit historischen Verbindungen zu der Terrororganisation IRA in den Umfragen aktuell auf dem ersten Platz liegt. Für viele Wähler, die sich noch an die "Troubles" – den Konflikt in Nordirland – erinnern können, steht Sinn Féin immer noch für zweifelhafte Methoden und Gewalt. Die beiden großen Parteien - Fine Gael und Fianna Fáil - schließen eine Koalition mit Sinn Féin aus. Doch den jungen Wählern ist die Geschichte von Sinn Féin offenbar weniger wichtig als das Versprechen, den Status quo aufzubrechen.

Denn die Parteien Fine Gael und Fianna Fáil, die sich in Irland seit einem Jahrhundert an der Macht abwechseln, werden als liberal-konservative Zwillingsschwestern gesehen. Fine Gael steht etwas rechter vom Zentrum und Fianna Fáil ist etwas weiter links. Doch die Unterschiede sind minimal. Sinn Féin bietet dagegen eine neue Politik mit neuen Gesichtern an.

Kleine Parteien als Königsmacher
Varadkar wird vermutlich einen politischen Preis für seine Sparpolitik zahlen, aber auch dafür, dass seine Partei schon seit neun Jahren an der Macht ist. Schon bei den letzten Wahlen 2016 konnte Fine Gael nur eine Minderheitsregierung mithilfe von unabhängigen Kandidaten im Parlament bilden. Die Konkurrenzpartei Fianna Fáil unterstützte die Regierung, indem sie sich auf einen Nichtangriffspakt einließ. 

Gut möglich, dass die Wahlen am Samstag keine klaren Verhältnisse im Parlament bringen. Keine Partei dürfte in der Lage sein, allein eine Regierung zu stellen. Kleinere Parteien wie Labour und die Green Party werden zu Königsmachern.

Nach den letzten Wahlen dauerten die Koalitionsgespräche sieben Wochen. Irland kann sich so eine lange Phase der Ungewissheit gerade nicht leisten. Bald beginnt eine neue Runde der Brexit-Verhandlungen, es wird um das künftige Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU gerungen. Eine handlungsfähige Regierung mit klarem Wählermandat wäre für Irland jetzt besonders wichtig.

spiegel


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