Warum niemand Bernie Sanders unterschätzen sollte

  22 Februar 2020    Gelesen: 816
  Warum niemand Bernie Sanders unterschätzen sollte

Bernie Sanders wird von US-Präsident Donald Trump und aus den eigenen Reihen für seine Sozialstaats-Pläne attackiert. Dabei hat der linke Senator aus Vermont eigentlich in vielen Punkten recht.

Der Vorwahlzirkus der Demokraten geht weiter. An diesem Samstag ist Nevada an der Reihe, kommende Woche South Carolina, danach folgt der Super Tuesday am 3. März. Bernie Sanders hat Chancen, überall erneut gut abzuschneiden. Umfragen sehen ihn im Kampf um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten landesweit in Führung.

Wer wissen will, warum der Alt-Linke Senator aus Vermont derzeit erfolgreich ist, braucht nur von der Hauptstadt Washington aus einige Kilometer ins Land zu fahren.

Ein Diner, eine Autostunde von Washington entfernt. Am Tresen arbeiten mehrere Männer und Frauen, drei von ihnen haben statt Zähnen nur noch schwarze Stumpen im Mund. Man nennt das hier in dieser Gegend, am Fuße der Appalachen, den "Mountain Dew Mund”. 

"Mountain Dew” ist eine Limonade, die viele Kinder und Jugendliche in den USA über Jahre getrunken haben und die wegen ihres hohen Zucker- und Säuregehalts dafür verantwortlich gemacht wird, dass viele von ihnen Probleme mit den Zähnen haben.

Millionen von Amerikanern sind unterversichert oder haben gar keine Versicherung
Im nahen Washington kann ein gutes Implantat schnell 7000 oder 8000 Dollar kosten. Für einen Zahn wohlgemerkt. Wer mehrere Zähne ersetzen lassen muss, landet locker im mittleren fünfstelligen Bereich. Die Leute aus dem Diner arbeiten fleißig, aber sie können sich eine solche Behandlung nicht leisten. Es reicht nicht einmal für eine Billigvariante. Also leben sie mit ihren Stumpen im Gesicht.

So ist es in vielen Teilen der USA. Auch bei anderen medizinischen Problemen fehlt den Menschen oft das Geld für eine ausreichende Behandlung. Millionen von Amerikanern sind unterversichert oder haben gar keine Versicherung.

Andere zahlen monatlich horrende Prämien oder haben einen hohen Selbstbeteiligungsanteil. Weiße, Schwarze, Hispanics. Das war schon vor der Wahl von Donald Trump so, und daran hat sich nicht viel geändert. 

Ein Studium kostet 256.760 Dollar
Szenenwechsel. Zwei Autostunden von Washington entfernt liegt die Universität von Virginia in Charlottesville. Es ist eine sehr gute Universität, nicht absolute Spitze, aber ordentlich. Wer hier einen Bachelor machen will, zahlt im Schnitt erstmal 14.811 Dollar Grundrate pro Jahr als Studiengebühr. Hinzu kommen 2842 Dollar weitere Gebühren und 11.590 Dollar für ein bescheidenes Zimmerchen auf dem Campus.

Zusammen mit sonstigen Ausgaben kostet das Studienjahr 33.493 Dollar. Ein Bachelor dauert in der Regel vier Jahre, insgesamt zahlt ein Student also gut 133.972 Dollar bis zum Abschluss. Das Masterstudium kostet extra. Wer nicht aus Virginia kommt, muss fast das Doppelte hinlegen. Dann sind es 64.190 Dollar pro Jahr, also 256.760 Dollar in vier Jahren. Natürlich gibt es in den USA auch Möglichkeiten, Stipendien zu erhalten, aber insgesamt haben amerikanische Studenten und ihre Eltern in den vergangenen Jahren 900 Milliarden Dollar an Schulden angehäuft - nur für Studiengebühren.

Zwei Momentaufnahmen, zwei Beispiele für den Zustand der USA jenseits von dem täglichen Trump-Irrsinn, der das Land in Atem hält. Das teure Gesundheitssystem und die horrenden Studienkosten sind zwei der großen sozialen Themen, die Bernie Sanders als Präsident lösen will. Mehr Gerechtigkeit, mehr Umverteilung von den Reichen und Superreichen zur normalen Bevölkerung verspricht er bei jedem Auftritt. Jeder Amerikaner soll eine medizinische Grundversorgung erhalten, die Studiengebühren sollen gesenkt oder sogar erlassen werden.

Sanders gibt einfache Antworten auf hochkomplexe politische Fragen. Aber seine Antworten kommen an, weil die Probleme, die das Land seit Jahren quälen unter Donald Trump beileibe nicht gelöst wurden - und weil viele Amerikaner tagtäglich von ihnen betroffen sind.

Eine Veränderung ist in Amerika überfällig
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind in Sachen Sozialpolitik im Vergleich zu Europa nach wie vor Entwicklungsland. Das heißt nicht, dass in Europa alles bestens ist, aber in den USA ist es mit Sicherheit nicht gut.

Die real existierende Wut der Menschen über ihre astronomischen Ausgaben für Medikamente, das Studium der Kinder oder die hohen Mieten in den Städten treibt Sanders Anhänger zu. Es ist zum Teil dieselbe Wut und Verzweiflung, die schon Donald Trump ins Amt beförderte, minus die Ausländerfeindlichkeit, die er für sich nutzte, um die letzte Wahl zu gewinnen.

Man muss Bernie Sanders und seine Rezepte nicht mögen, aber man sollte ihm zuhören. Eine Veränderung ist in Amerika überfällig, das Land braucht mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Fürsorge für die unteren Einkommensgruppen, aber auch für große Teile der Mittelklasse. Es ist Zeit.

Eine gute Ausbildung für die eigenen Kinder wird zum Luxusgut
Unter Trump hat sich durch den anhaltenden Aufschwung zwar die Einkommenssituation vieler Menschen verbessert, auch die Arbeitslosigkeit ging weiter zurück. Aber der Traum, dass der Markt alle Probleme regelt, ist auch in den USA lange ausgeträumt. An den grundlegenden sozialen Problemen in vielen Gegenden des Landes hat sich trotz Wirtschaftsboom wenig geändert. Viele Kosten steigen, und Dinge, die in einem reichen Land eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollten, wie eine gute Ausbildung für die eigenen Kinder, werden zum Luxusgut.

Als Donald Trump zur Wahl antrat und der Wut vieler Amerikaner auf die Ungerechtigkeiten im Land ein Ventil gab, wurde er erst ausgelacht und dann doch gewählt. Nun schütteln viele über den kauzigen Sanders den Kopf und lachen ihn aus.

Tatsächlich ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er gegen Trumps gut geölte Wahlkampfmaschine bei der Wahl im November eine Chance hätte. Aber vielleicht ist auch dies wieder ein Irrtum.

spiegel


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