Es sind verrückte Zeiten bei der SPD. Da rutschen die Sozialdemokraten bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg um ganze 6,6 Prozentpunkte ab - deutlicher als jede andere Partei in der Hansestadt, und trotzdem ist der Jubel riesig. Plötzlich wird Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher als neuer Star der Partei gefeiert. Ob er auch als Kanzlerkandidat zur Verfügung stünde, fragt am Morgen nach der Wahl ein Journalist im Willy-Brandt-Haus. Die beiden Parteichefs rechts und links von ihm, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken, wirken in diesem Moment wie Statisten im eigenen Film. Doch Tschentscher wiegelt ab. Er sei für fünf Jahre gewählt worden, sagt er. Und sein Amt sei bekanntermaßen das "großartigste der Welt". Stattdessen dankt er der Parteispitze für deren Unterstützung - und das ist pure norddeutsche Höflichkeit.
Denn die Hamburgische Bürgerschaft bleibt auch deshalb für weitere fünf Jahre in SPD-Hand, weil sich die Bundesspitze weitgehend aus dem Wahlkampf herausgehalten hat. Noch zu Beginn der heißen Wahlkampfphase im November 2019 hatten die Sozialdemokraten bei miserablen 25 Prozent gelegen; knapp hinter den Grünen. Wie sehr der schier endlose Bewerbungsmarathon um den SPD-Parteivorsitz dazu beigetragen hat, ist schwer zu beantworten. Aber Tschentscher hat es geschafft, die Stimmung zu drehen - und zwar mit einem Programm, das die wirtschaftsfreundliche Linie seines Vorgängers Olaf Scholz weitgehend fortführt. Die Qualität der SPD sei es, "an alle zu denken", sagt der Bürgermeister und meint damit neben den Hamburger Mietern und Familien auch die Unternehmer. Im Wahlkampf verteidigte Tschentscher die schwarze Null, und er kritisierte noch im Februar bei ntv die dauerhafte Selbstbeschäftigung seiner Partei.
Ausgerechnet mit diesem Kurs hat er sich in den Augen prominenter Parteikollegen als Vorbild für die Bundespartei qualifiziert. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil sagte der "Welt", Tschentscher habe "den Kern dessen getroffen, was die Menschen von ihrer künftigen Führung erwarten" und lobte ausdrücklich dessen wirtschaftsfreundlichen Ton. Die SPD als "Partei der Arbeit" müsse sich auch um "vernünftige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft kümmern", so Weil. Man dürfe nicht grüner werden als die Grünen und auch nicht linker als die Linken. So ähnlich könnte man wohl auch die Linie von Olaf Scholz beschreiben. Innerhalb des Dunstkreises um die neue Parteispitze käme im Moment aber wohl niemand auf die Idee, Scholz' Politikstil als Blaupause für die Bundes-SPD herzunehmen; schon gar nicht nach der Vorsitz-Suche vom vergangenen Jahr.
Kleinster gemeinsamer Nenner
Walter-Borjans und Esken wollen sich abgrenzen vom alten Kurs der Partei - und trotzdem teilhaben an rar gewordenen Erfolgen. Die Hamburger SPD habe auch vom "klaren Kompass" der Bundespartei profitiert, verkündet Walter-Borjans am Wahlabend. Tags darauf rüstet er deutlich ab. Tschentschers Erfolg zeige, was wichtig ist, sagt er nun - ohne in seiner Anerkennung allzu inhaltlich zu werden. Wichtig sei, "dass Kopf, Programm und Region zusammenpassen." Womöglich ahnt man im Willy-Brandt-Haus so langsam, dass der gebeutelten Partei nicht automatisch mit einer linkeren Programmatik aus der Krise geholfen ist. Womöglich ahnt man auch, dass die Parteispitze den Hamburger Wahlkämpfern bestenfalls damit geholfen hat, sich rauszuhalten und nicht erneut medienwirksam mit Gedankenexperimenten à la Enteignung und Vergesellschaftung zu spielen. Tschentschers Sieg ist auch ein Sieg der moderaten SPD.
Die Parteiführung wird nun versuchen müssen, ein erneutes Aufbrechen des weiterhin schwelenden Richtungsstreits innerhalb der Partei zu verhindern. Denn überall dort, wo in den Ländern noch sozialdemokratisch regiert wird, sind Pragmatiker am Werk. In Brandenburg hat mit Dietmar Woidke vergangenes Jahr ein Sozialdemokrat gegen die starke AfD bestanden, ohne auf knallige Slogans zu setzen - und ohne programmatisch nach links oder rechts auszuscheren. Wie auch jetzt in Hamburg verließen sich die Wähler auf Bekanntes. Und diese Verlässlichkeit, die gab es lange nicht auf Bundesebene. Für das Spitzenduo ist das ein Problem. Während die eigenen Anhänger das Experiment wollen, propagieren die Vertreter der Mitte das Verbindliche - und gewinnen damit Wahlen (in den Ländern).
So bleibt die Partei zwangsweise gespalten. Eine Lösung könnte die Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz sein. Es wäre ein Zugeständnis an all jene innerhalb der Partei, die dem Linkskurs der neuen Parteiführung wenig abgewinnen können und die der SPD eher eine Kommunikations- statt eine Identitätskrise attestieren. Auch bei den Wählern ist der Finanzminister beliebt. Laut RTL/ntv-Trendbarometer genießt er nach Angela Merkel und Robert Habeck den stärksten Rückhalt bei den Deutschen. Nach Scholz gefragt, will sich der Parteichef jedoch noch nicht festlegen. Den Vizekanzler bezeichnet Walter-Borjans lediglich als "hervorragenden Politiker" und er verspricht, dass man die Kandidatenfrage "ausführlich besprechen" und dann "die richtige Entscheidung" treffen werde. Das klingt wieder sehr nach Selbstbeschäftigung.
Im Moment - und das ist ein Hoffnungsschimmer - scheint sich die Partei zumindest auf Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners, der Verachtung für die demokratiefeindliche Rechte, zusammenzufinden. Das ist mehr als man aktuell über die CDU sagen kann. Während letztere in dieser Frage mit einer einheitlichen Haltung hadert, verkauft sich die SPD durchaus glaubwürdig als Gegenpol - ob in Erfurt, Hamburg oder Berlin. Manchmal reicht das schon, um Gräben zu überwinden; auch innerhalb der eigenen Partei.
ntv
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