Bis Jahresende haben sie Zeit, um sich auf ein Freihandelsabkommen und die Kooperation in weiteren Bereichen zu einigen und einen entsprechenden Vertrag zu ratifizieren, bevor die Brexit-Übergangsphase ausläuft. Sonst droht zum Jahreswechsel eine ungeordnete Trennung mit schweren Konsequenzen für Wirtschaft und Handel. Der Zeitraum für die Verhandlungen gilt aufgrund der Fülle an zu klärenden Themen als knapp bemessen.
In den vergangenen Tagen hatten beide Seiten ihre jeweiligen Leitlinien für die Gespräche beschlossen. Großbritannien will für seine Wirtschaft die Stärke der EU weiterhin nutzen, zugleich aber möglichst wenige Regeln der Gemeinschaft einhalten müssen. Die EU befürchtet, dass Großbritannien seine Unternehmen von teuren Umwelt- und Sozialauflagen befreit, bei Bedarf mit Subventionen hilft und so den Wettbewerb verzerrt - sie pocht darauf, dass die EU-Standards Referenzwerte bleiben.
Die Kernpunkte in den Verhandlungen:
Die Europäische Union
- strebt ein umfassendes Abkommen an, das unter anderem Freihandel bei fairem Wettbewerb garantiert
- ist bereit, Großbritannien ohne Zölle weiter Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren
- fordert, dass Großbritannien nicht systematisch EU-Regeln unterläuft, um sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, und will "Null-Dumping"-Zusicherungen sowie das Einhalten von Umwelt- und Sozialstandards
- will den weiteren Zugang zum EU-Finanzmarkt nur einseitig mit einer sogenannten Äquivalenzerklärung gewähren und nur eine "freiwillige" Zusammenarbeit bei der Finanzregulierung
- möchte einen umfassenden und rechtsverbindlichen Verteidigungs- und Sicherheitsvertrag aushandeln, was London ablehnt
Großbritannien
- verlangt völlige wirtschaftliche sowie politische Unabhängigkeit
- will ein Freihandelsabkommen ohne Verpflichtung zur Angleichung seiner Gesetze an EU-Recht
- lehnt Zölle und Quoten ab, sagt aber auch, dass man bereit sei, bei Bedarf auf interventionistische Regeln der Welthandelsorganisation zurückzugreifen
- will dem Europäischen Gerichtshof keinerlei Rechtsprechung in Großbritannien erlauben
- fürchtet, dass die EU einen einseitigen Entzug des Zugangs zum EU-Finanzmarkt bei jeder Streitigkeit als Drohung einsetzen kann und fordert deshalb einen rechtlich bindenden Zugang zum EU-Finanzmarkt, was die EU jedoch ablehnt
- will über weitere Themen wie Fischerei, Luftfahrt, Migration und Strafverfolgung getrennt verhandeln, statt wie die EU alle Gebiete in einem umfassenden Abkommen klären
Skepsis, Drohungen und viele offene Fragen
Wie konträr manche Themen sind, zeigt sich besonders bei der Fischerei. Brüssel will möglichst die derzeitigen Abmachungen beibehalten, wonach EU-Fischerboote Zugang zu den besonders reichen britischen Fischereigewässern haben. Das lehnt London aber ab. Stattdessen wollen die Briten jährlich festsetzen, welchen Zugang sie zu ihren Gewässern erlauben. Mit dem Zugang zum europäischen Markt, wohin der größte Teil des britischen Fischs exportiert wird, soll das nach dem Willen Londons nicht verknüpft werden.
Vor den neuen Gesprächen hat EU-Chefunterhändler Michel Barnier im Interview mit dem SPIEGEL klargemacht, dass die EU ihren Binnenmarkt schützen wird, auch vor den Briten. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte: "Angesichts der Tatsache, dass Großbritannien weder in der Zollunion noch im Binnenmarkt sein möchte, muss man ein sehr intensives Freihandelsabkommen verhandeln. Wir werden uns hier nicht auseinanderdividieren lassen." Europaministerin Amélie de Montchalin betonte in einem Gastbeitrag im britischen "Guardian" am Freitag, die EU werde ihre Ambitionen nicht verringern, um eine "künstliche Frist" einzuhalten. Bei einer Rede in London sagte sie später, Brüssel werde nicht "irgendeinen Deal" unterzeichnen, um bis zum Auslaufen der Übergangsfrist Ende 2020 ein Abkommen zu haben.
Im Brexit-Vertrag, der die Übergangsfrist regelt, ist bereits eine Lösung für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland enthalten. Die EU-Seite war zuletzt aber skeptisch, ob die vorgesehene Kontrolle von Waren, die über Nordirland nach Irland geliefert werden, auch funktionieren wird. Sie will die Vorbereitungen darauf genau verfolgen.
Strenger Zeitplan
Zum Start der Gespräche sollen elf Teams gleichzeitig an Themen wie etwa Warenhandel, Dienstleistungen, Luftverkehr oder Fischerei arbeiten. Das Thema Außenpolitik, Sicherheit und Verteidigung ist auf Wunsch der Briten zunächst nicht Bestandteil der Gespräche. Vom 18. bis 20. März treffen sich die Unterhändler dann für eine zweite Runde in London. Bislang stehen die Termine für fünf Gesprächsrunden fest.
Eine erste Bilanz soll bei einem hochrangigen Treffen zwischen EU-Chefunterhändler Barnier und dem britischen Unterhändler Frost im Juni gezogen werden. Die britische Regierung hat bereits damit gedroht, die Gespräche vorzeitig abzubrechen, sollte bis dahin kein ausreichender Fortschritt erreicht sein. Eine Verlängerung der Übergangsfrist, die noch bis Ende Juni offen steht, lehnt der britische Premierminister Boris Johnson vehement ab.
Die EU ist der mit Abstand größte Handelspartner für Großbritannien. Die Drohung mit einem Abbruch der Gespräche wird deshalb von EU-Diplomaten nicht sonderlich ernst genommen. Ohne einen Zugang zum Binnenmarkt dürften auch die Wertschöpfungsketten zerstört werden, die Unternehmen auf dem Kontinent in den vergangenen Jahrzehnten mit Firmen in Großbritannien aufgebaut hatten.
spiegel
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