Es herrscht ein unbeschreiblicher Lärm bei der CDU in Ost-Berlin. Die Anhänger feiern am Abend des 18. März 1990 ihren Wahlsieg. In ihrer Mitte der Parteivorsitzende Lothar de Maizière, der ziemlich unbeholfen versucht, ein Victory-Zeichen zu machen. Sage und schreibe 40,8 Prozent fährt die ehemalige Blockpartei bei der ersten freien Wahl zur DDR-Volkskammer ein. Selbst für die kühnsten Optimisten kommt dieses Ergebnis überraschend. Die "Allianz für Deutschland", das konservative Wahlbündnis aus CDU, Demokratischem Aufbruch (DA) und Deutscher Sozialer Union (DSU) erreicht insgesamt 48 Prozent der abgegebenen Stimmen.
De Maizière spürt bereits am Wahlabend die große Verantwortung, die auf ihn zukommt. "Wir werden jetzt erst einmal richtig feiern", ruft der Rechtsanwalt und leidenschaftliche Bratschenspieler seinen Anhängern zu. Dennoch ist die Last, die auf den Schultern des kleinen, schmächtigen Mannes liegt, immens. Sein Lächeln wirkt gequält. Der zu diesem Zeitpunkt 50-Jährige wird als Ministerpräsident mit der Abwicklung des zweiten deutschen Staates und dem Verhindern großer sozialer Verwerfungen beschäftigt sein. Diese Bescheidenheit unterscheidet de Maizière vom DA-Vorsitzenden Wolfgang Schnur, der bei Wahlkampfauftritten ("Vor Ihnen steht der nächste Ministerpräsident") großspuriger auftrat und noch vor der Wahl wegen Stasi-Verwicklungen von der politischen Bühne gefegt wird.
Der CDU-Vorsitzende weiß, dass ein großer Teil der DDR-Wähler eigentlich nicht ihm und seinen "Blockflöten", sondern Bundeskanzler Helmut Kohl und seiner christlich-liberalen Bundesregierung die Stimme gegeben hat. Eine schnelle Wiedervereinigung Deutschlands nach Artikel 23 des bundesdeutschen Grundgesetzes und die Einführung der D-Mark zwischen Elbe und Oder ist ihr Wunsch. Die "Allianz für Deutschland", die eigentlich unter Kohls Führung steht, ist das Mittel zum Zweck.
Niedergeschlagene SPD und Schilys Banane
Katzenjammer herrscht dagegen bei den Sozialdemokraten. In Umfragen stets vorne liegend, gehen die Ostdeutschen der SPD kurz vor der Wahl von der Fahne. Gerade einmal magere 21,9 Prozent fahren die Roten ein. Und das, obwohl westdeutsche SPD-Schwergewichte wie die Ex-Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt sowie Parteichef Hans-Jochen Vogel bei Wahlkampfauftritten im deutschen Osten gefeiert worden waren. Das im Februar 1990 in Leipzig verabschiedete Grundsatzprogramm der Ost-SPD hat als Kern die Forderung nach einer ökologisch orientierten sozialen Marktwirtschaft. Allerdings registriert der einigungswillige DDR-Bürger Äußerungen des saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine, der vor "nationaler Besoffenheit" warnt und die Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in der Nato als "historischen Schwachsinn" bezeichnet.
Am Wahlabend legt Lafontaine nach: Viele DDR-Bürger hätten sich für Kohl entschieden, weil sie meinten, dass damit "das Geld fließt". Das ohne Zweifel richtige Aufzeigen von zu erwartenden Schwierigkeiten ist zu diesem Zeitpunkt in der DDR unpopulär. Unübersehbar ist, dass die SPD in der Frage der schnellen Wiedervereinigung gespalten ist. Noch deutlicher wird Otto Schily, damals noch streitbarer Grünen-Politiker: Er kommentiert das Wahlergebnis auf seine Weise, indem er eine Banane in die TV-Kameras hält.
Niedergeschlagenheit herrscht auch bei den DDR-Bürgerrechtlern. Das Bündnis 90, dem Bürgerrechtsgruppen wie Neues Forum und Demokratie Jetzt angehören, kommt auf magere 2,9 Prozent. Marianne Birthler, die später brandenburgische Bildungsministerin und Chefin der Stasi-Unterlagenbehörde wurde, empfindet das Wahlergebnis als ungerecht. Für sie ist aber auch wichtig, dass die freie Volkskammerwahl das Ende der jahrzehntelangen SED-Herrschaft in der DDR bedeutet. Im Gegensatz zu SPD und dem Bund Freier Demokraten (BFD/5,3 Prozent), einem Wahlbündnis liberaler Parteien, entschließt sich das Bündnis 90 für den Gang in die Opposition.
Auf die harten Oppositionsbänke müssen auch die Genossen der ehemals allmächtigen SED, die nun unter der Bezeichnung Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) firmiert. Die Erben von Erich Honecker schneiden mit 16,4 Prozent unerwartet gut ab und stellen 66 der 400 Volkskammer-Abgeordneten. Dennoch herrscht im Karl-Liebknecht-Haus auch Verbitterung. Parteichef Gregor Gysi beklagt die westdeutsche Dominanz im Wahlkampf von "Allianz für Deutschland" und SPD.
Noch-Ministerpräsident Hans Modrow, der das DDR-Schiff seit November 1989 durch das schwere Fahrwasser des gesellschaftlichen Umbruchs führt, macht deutlich, dass seine Regierung zum Schluss kaum noch Gestaltungsraum hatte. Gut einen Monat vor der Volkskammerwahl hatte er sich in Bonn eine Abfuhr geholt. Kohl, der von KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow de facto grünes Licht für die deutsche Wiedervereinigung bekommen hatte, verweigerte Modrow einen Überbrückungskredit von 15 Milliarden D-Mark. "Was hätte ich anderes machen sollen?", fragt Kohl in seinen Memoiren. Modrow, vor einigen Monaten im Westen noch als Reformer gepriesen, beklagt die "Arroganz" des Pfälzers.
Die D-Mark muss schnell kommen
Dabei steht auch der Bundeskanzler unter enormem Druck. Damit die D-Mark zu den DDR-Bürgern kommt und nicht umgekehrt, muss Kohl liefern und schnellstens eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion herbeiführen. Dazu gehört auch der Umtauschkurs von DDR- in D-Mark von 1:1 für die Kleinsparer. Kohl muss sich dafür harsche Kritik von Ökonomen und vor allem von Bundesbank-Präsident Karl Otto Pöhl anhören. Der Bonner Regierungschef pocht auf eine stabile DDR-Regierung mit einer möglichst breiten Mehrheit - natürlich unter Ausschluss der PDS. So treten SPD und Liberale in das Kabinett ein, das Mitte April seine Arbeit aufnimmt. Der Sozialdemokrat Markus Meckel begründet den Einstieg seiner Partei in die Regierung: "Ich wollte die Einheit mitgestalten. Nur von außen zu kritisieren, hätte nichts genutzt." Meckel wird Außenminister und ist bis zum Koalitionsbruch im August 1990 im Kabinett de Maizière.
Die neue Regierung hat einen schweren Stand. Die Probleme, vor der sie steht, sind erdrückend. Die Zahl der Arbeitslosen steigt dramatisch. Der Umbruch von der Plan- zur sozialen Marktwirtschaft ist äußerst kompliziert. Viele Minister bekleiden zum ersten Mal ein wichtiges politisches Amt, einige sind schlichtweg überfordert. Spötter sprechen vom Laienkabinett in Ost-Berlin. Aber auch starke Charaktere finden den Weg in die Regierung. Die Sozialdemokratin Regine Hildebrandt, in dieser schwierigen Zeit Arbeits- und Sozialministerin, erringt später bundesweite Beachtung und Popularität. Sie wird nach der Deutschen Einheit ein politisches Schwergewicht in der Brandenburger Landesregierung. Durch de Maizière gefördert wird auch die junge DA-Politikerin Angela Merkel, die er zur stellvertretenden Regierungssprecherin ernennt. Sie macht später in Bonn unter Kohl als Bundesministerin Karriere.
Trotz des fulminanten Wahlsieges am 18. März gibt es für Ministerpräsident de Maizière nicht viel zu feiern. Grundlegende Weichenstellungen innen- und wirtschaftspolitischer Art finden in Bonn statt. Das Verhältnis des DDR-Regierungschefs zu Kohl ist dabei nicht frei von Spannungen. De Maizières Vorhaben, die rund 16 Millionen Ostdeutschen auf Augenhöhe in die Einheit führen zu wollen, erweist sich aufgrund der ökonomischen Schwäche der DDR als Wunschdenken. Die erste freie Volkskammerwahl im deutschen Osten ist zugleich auch die letzte. Die mehr als 93 Prozent Wahlbeteiligung werden im Beitrittsgebiet wohl nicht mehr erreicht.
Quelle: ntv.de
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