Wie Karten Leben retten sollen

  11 April 2020    Gelesen: 662
Wie Karten Leben retten sollen

Wo sind Krankenhausbetten frei - und wo werden wegen Corona bald welche gebraucht? Die neue "Mikrogeografie" verspricht verständliche Frühwarnsysteme. Doch der Weg von der Idee zum Praxiseinsatz ist kompliziert.

Eigentlich ist Deutschland für die Coronakrise gut gerüstet: Hierzulande gibt es wohl mehr als 25.000 Intensivbetten - das sind pro Einwohner betrachtet weitaus mehr als etwa die Niederlande haben. Der Teufel steckt jedoch im Detail. Denn mancher Corona-Planer neigt dazu, in viel zu großen Einheiten zu denken, auf Bundesebene oder Landesebene.

"Wir müssen uns auf den Fall vorbereiten, dass zum Beispiel Krankenhäuser in Aachen überlastet sind, und dass Patienten dann vielleicht nach Mecklenburg-Vorpommern oder so verlegt werden müssen", sagt Professor Reinhard Busse von der TU Berlin: "Aber dieser bundesweite Austausch ist im Moment nicht geregelt, es gibt keine zentrale Instanz für die bundesweite Kapazitätsverwaltung."

Busse hat einen Überblick sozusagen aus der Adlerperspektive. Als Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen ist er maßgeblich an der Datenbank "Covid19healthsystem" beteiligt, einer Übersicht zu Krankenhauskapazitäten in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation und dem europäischen Gesundheitsobservatorium. Busse fordert bessere Daten für den Moment, wenn der globale und nationale Notstand mit voller Wucht aufs Lokale trifft, zum Beispiel auf die begrenzten Möglichkeiten einer Kleinstadtklinik.

Das Problem: Theoretisch könnte es durchaus passieren, dass in einem Bundesland die Krankenhäuser überlastet sind, aber im Nachbarland nicht - und dass Hilfe unterbleibt, so Busse, "weil es derzeit keinen Entscheidungs- und  Informationsmechanismus gibt".

Bislang helfen sich Kliniken oft innerhalb eines Bundeslandes gegenseitig aus, doch auch das geschieht eher auf Zuruf und kurzfristig. Um Kapazitäten optimal zu nutzen, müsste man wissen, was auf ein Krankenhaus zukommt, um im Zweifelsfall ein paar Tage früher schon zum Beispiel transportfähige Patienten zu verlegen, vielleicht sogar über Landesgrenzen hinweg.

"Da läuft ein Riesentsunami auf uns zu, wir brauchen dringend ein digitales Frühwarnsystem", sagt der Chefarzt einer Klinik in Konstanz, der nicht genannt werden will. Wie wäre es, wenn man das Covid-19-Erkrankungsregister des Robert Koch-Instituts (RKI) mit der Intensivbettenzahl kombinieren würde, die von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) erhoben wird? Leicht auf einen Blick verständlich wie eine Ampel, aber mit ein paar Tagen Vorwarnung wie bei einer Unwetterwarnung?

Ein ungenutztes Frühwarnsystem
Der Chefarzt schickte am 21. März, einem Samstag, eine Mail an Bekannte an der dortigen Uni - auch an Daniel Keim, den Leiter der Arbeitsgruppe für Datenanalyse und Visualisierung. Wo große Strukturen knirschen, behilft man sich vor Ort gern spontan.

Das ganze Wochenende lang, Tag und Nacht, arbeitete der Datenanalyseprofessor mit einem Team aus 15 Forschern, um dem Chefarzt auszuhelfen. Das Ergebnis: "Coronavis", ein intuitiv verständliches Frühwarnsystem, das Ärzten einen Überblick über die Anzahl verfügbarer Betten und zu erwarteten Patientenzahlen in ganz Deutschland geben soll, bis zu 72 Stunden im Voraus. Die "Konstanzer Lösung" nennen es die Mediziner bescheiden.

Doch das Gesundheitssystem hierzulande ist kompliziert, sodass sich auch Chefärzte und Professoren bisweilen im Gestrüpp der Zuständigkeiten verheddern. Am RKI wurde das "interessante Tool" Ende März zwar begeistert begrüßt. Doch dann wurde den Konstanzern der Zugriff auf die Intensivbettenzahlen der Divi gesperrt. Es gelte, eine "Parallelstruktur" zu verhindern, hieß es von Seiten der Divi am Mittwoch, man arbeite schließlich bereits an einer eigenen Vorhersagesoftware. Wann die verfügbar ist, sei aber noch unklar. 

Das RKI teilte am Donnerstag mit: "Es ist nicht so, dass das RKI die Daten den Konstanzer Forschern nicht mehr zur Verfügung stellt, sondern das RKI hat die Berichterstattung wegen Plattform-Umzug ausgesetzt." Die Konstanzer Lösung, seit Ende März fertig, bleibt so ungenutzt.

Veraltete und spät gelieferte Daten
Ähnliche Erfahrungen machen derzeit viele Forscher und Entwickler. Manuel Blechschmidt, 34, ist eigentlich Datenspezialist für Geschäftssoftware. An einem Wochenende machte er beim Hackathon des Kanzleramts mit, an dem sich über 27.000 Bürger beteiligten. Blechschmidt arbeitete in einem Team, zu dem auch Forscher aus Basel gehörten.

Wo die Konstanzer Lösung eine Art taktischen Überblick drei Tage im Voraus bietet, modelliert Blechschmidts Karte eine strategische Warnung: bis zu drei Wochen im Voraus. Doch beim Statistischen Bundesamt (Destatis) in Wiesbaden verwehrte man Blechschmidt anfänglich detaillierte Auskünfte über Bettenzahlen auf Gemeindeebene.

Ein Bundesamts-Mitarbeiter kommentiert die Geheimhaltung: "Ich sehe auch die Dringlichkeit, aber die Daten auf Kreisebene fallen häufig unter die statistischen Geheimhaltungsvorschriften." Außerdem seien die Daten völlig veraltet, sie stammten aus dem Jahr 2017, "da es im Jahr 2018 eine Verzögerung bei der Aufbereitung gab", so das Destatis. Wochen später bekam der Entwickler die gewünschten Daten dann doch.

"Wenn wir den Shutdown beenden wollen, geht das nur mit postleitzahlengenauen, tagesaktuellen Karten"
Solche Schwierigkeiten waren abzusehen. Schon 2012 warnte ein "Bericht zur Risikoanalyse" den Bundestag für den Fall einer Pandemie: Es gelte, "die an unterschiedlichen Stellen vorliegenden Geoinformationen mit Relevanz für den Bevölkerungsschutz zielgerichtet zusammenzuführen und für die Risikoanalyse nutzbar zu machen".

"Der Kampf gegen Corona ist ein wenig wie ein Krieg", sagt Retsef Levi, Professor für Management am renommierten MIT bei Boston. Zwölf Jahre lang war er bei den israelischen Streitkräften und hat dort strategische Analysen erstellt. Ähnliches fordert er auch im Kampf gegen Corona: "Wenn wir den Shutdown beenden wollen, geht das nur mit postleitzahlengenauen, tagesaktuellen Karten, um lokale Infektionsherde zu erkennen und einzudämmen, bevor sie außer Kontrolle geraten."

"Mikrogeografie" nennt Levi seinen Ansatz. Gemeinsam mit 11 anderen Professoren und über 50 Studenten und Forschern vom MIT hat er mit der Datenplattform "Covid-19 Policy Alliance" mühsam Daten zusammengesucht. Entstanden ist dabei eine interaktive, hochdetaillierte Corona-Karte der USA, in die Infektionszahlen, aber auch Faktoren wie Alter, Übergewicht, Bluthochdruck und die Anzahl der verfügbaren Krankenhausbetten einfließen.

Für jeden Bezirk wird dabei ein Risikofaktor zwischen null und sechs angegeben. Diese mikrogeografische Genauigkeit soll zum Beispiel der Leitung von Senioreneinrichtungen helfen, Vorkehrungen zu treffen.

Bei der Mikrogeografie verschmelzen Computerwissenschaft, Kartografie und Medizin auf diese Art zu einer neuartigen Disziplin - so neu, dass sie bisweilen als das Privathobby von ein paar Tüftlern missverstanden werden kann. Was erklären könnte, warum es die Datenmodellierer teils so schwer haben, Gehör zu finden und Zugang zu Daten zu bekommen.

"Die Coronakrise ist eine gute Gelegenheit, einige Gegebenheiten im deutschen Gesundheitswesen auf den Prüfstand zu stellen", sagt Professor Reinhard Busse aus Berlin. Auch für die Zeit nach Covid-19 hat er schon eine Analyse parat: "In Zukunft sollten wir darüber nachdenken, ein Informations- und Verteilungssystem zu Intensivbettenzahlen europaweit aufzubauen."

Deutschland hätte besser helfen können, als in Italien Krankenhäuser überlastet waren, aber hierzulande viele Intensivbetten zur Verfügung standen, so Busse: "Dieser fehlende Austausch hat einigen Patienten vielleicht das Leben gekostet."

spiegel


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