Besessen vom Sieg und von purer Dominanz

  19 April 2020    Gelesen: 1146
  Besessen vom Sieg und von purer Dominanz

Michael Jordan, der besten Basketballer aller Zeiten, weiß, dass die Saison 1997/98 seine letzte in der NBA sein wird. Ein Dokumentarfilm zeigt nun, wie die Dynastie der Chicago Bulls ein Ende fand und ein überehrgeiziger Jordan dabei das Spiel geprägt und verändert hat - bis heute.

John Stockton, der Point Guard der Utah Jazz, bringt sein Team durch einen Dreier mit 86:83 vor heimischem Publikum in Führung. Noch 40 Sekunden sind zu spielen im sechsten Spiel der NBA-Finalserie 1998, die Chicago Bulls führen mit drei zu zwei Partien. Ein Sieg fehlt ihnen noch bis zum Titel. Michael Jordan bringt seine Bulls mit einem schnellen Korbleger auf einen Punkt heran. Dann folgt der ikonische Moment, der in die Geschichtsbücher eingeht: Jordan schleicht sich aus dem toten Winkel an Jazz-Forward Karl Malone heran, haut mit Wucht auf den Ball und klaut ihn dem "Mailman" aus der Hand.

Lässig dribbelt er über die Mittellinie, die Bulls nehmen keine Auszeit. Noch 17 Sekunden zeigt die Uhr an. Jordan stellt sich seinen Gegner Bryon Russell zurecht und zieht dann mit drei schnellen Schritten Richtung Freiwurflinie. Er stoppt so abrupt, dass Russell nur noch vorbeifliegen kann. Dann steigt Jordan in unnachahmlicher Manier zum Sprungwurf hoch. Seine rechte Wurfhand bleibt so lange in der Luft, bis der Ball zu seinem Punkten 44 und 45 durchs Netz segelt - ohne den Ring auch nur zu berühren. Der Rest ist Geschichte.

Die Chicago Bulls gewinnen ihre sechste Meisterschaft innerhalb von acht Jahren, Jordan holt die sechste Finals-MVP-Trophäe für den wertvollsten Spieler. Danach geht der Megastar in Rente (bis zu einem zweijährigen Comeback bei den Washington Wizards von 2001 bis 2003). Der zehnteilige Dokumentationsfilm "The Last Dance" des US-amerikanischen Sportsenders ESPN und des Streamingdienstes Netflix (in Deutschland ab dem 20. April mit wöchentlichen Folgen) ermöglicht nun einen intimen Blick hinter die Kulissen der letzten Saison einer der dominantesten Dynastien im Sport weltweit. Ein Kamerateam hatte die Bulls das komplette Jahr über begleitet und so bietet die Doku bisher unveröffentlichte Szenen. Dazu beleuchten unzählige Interviews vor allem ein Thema: Das Phänomen Michael Jordan, den besten Basketballer aller Zeiten.

"Das wird das Ende der Reise"

Als die Chicago Bulls in die NBA-Saison 1997/98 starten, haben sie fünf Meisterschaften in den vergangenen sieben Jahren gewonnen und die Liga dominiert. Vor Jordan hatten die Bulls nie einen Titel gewonnen und auch nach ihm schafften sie es nicht. Aber auf dem Weg zum zweiten Titel-Dreierpack schien das Ende der Bulls-Dynastie wie Damokles' Schwert über dem Team zu schweben. "The Last Dance" zeichnet nach, wie schon vor der Saison allen Akteuren klar ist, dass das Team nach diesem Jahr auseinander brechen wird. Auch weil die Mannschaft am Ende ihres Zenits steht. Die Spieler werden älter - auch Jordan, der trotzdem immer noch der beste Spieler der Welt ist.

Aber vor allem, weil sich nach dem Titelgewinn 1997 die Probleme von Jordan und Meistercoach Phil Jackson mit General Manager Jerry Krause verschärfen. Der Bulls-Boss mag den Trainer nicht, gibt ihm nach dem fünften Titel nur einen Einjahresvertrag und verkündet: "Das wird Phil Jacksons letztes Jahr als Bulls-Trainer." Damit wird auch klar, dass Jordan Schluss machen wird. Schließlich hatte er gesagt, nur unter Jackson spielen zu wollen. Zerfällt die einzigartige Sport-Dynastie? Scottie Pippen, Jordans kongenialer Partner, sinniert in der Dokumentation: "Wir wussten, das wird das Ende der Reise." Noch einmal wollen die Bulls es allen zeigen. Für einen letzten Tanz kommen Jordan, Jackson und Dennis Rodman mit Einjahresverträgen zurück.

Jordan ist so nah wie selten zuvor

Die Wahrheit über Dynastien ist, dass jede einmal endet. "Was ist einzigartig in dieser Dynastie?", wird in einer Szene in "The Last Dance" Steve Kerr, damals Bulls-Guard und heute mehrfacher Meistertrainer der Golden State Warriors, gefragt. "Wir haben Michael", antwortet er. Wie besonders Jordan ist, stellt die Dokumentation schnell klar und startet mit einem Rückblick auf seine ersten Tage mit den Bulls, von denen er 1984 gedraftet wird (berühmt-berüchtigter Weise nicht an erster, sondern dritter Stelle). "Ich will, dass die Chicago Bulls respektiert werden wie die Los Angeles Lakers oder die Boston Celtics", sagt ein junger MJ. "Das ist ein sehr schwieriges Unterfangen, aber es ist nicht unmöglich."

Der Zuschauer erfährt zügig, wie gut dieses Unterfangen klappte. Im Schnelldurchlauf bekommt er Jordans ersten Titeldreierpack von 1991 bis 1993 vorgesetzt. Hip Hop von Notorious B.I.G. und Mase zusammen mit den alten Spielszenen sorgt für die Abrundung des 90er-Jahre-Flairs. Der Dokumentarfilm verdeutlicht von Anfang an, dass er Spaß vermitteln will. Alte und neue Interviews werden bunt zusammengewürfelt, so dass ein schnellgeschnittenes, lebendiges Gesamtpaket entsteht.

Eines, das den Betrachter so nah an Jordan heranführt wie vielleicht nie zuvor. In die Teambesprechungen im Locker Room. An die Taktiktafel in der Umkleide. An Jordans Füße, wenn er vom Physio bandagiert und verarztet wird. In den "Huddle" vor dem Spiel. Da gibt es Jordan Kaugummi kauend im Spielertunnel, Jordan tanzend vor dem Einlaufen zum Spiel in die Halle, Jordan im viel zu weiten Anzug.

Jordan bittet seine Mutter um Geld

"The Last Dance" zeigt auch, wie kulturell signifikant die Übertragungen der Bulls-Spiele damals sind: Wie die Beatles werden Jordan und Co. in Paris empfangen. Auch in Deutschland spricht man über die Finalserien dieses schier unschlagbaren Teams und sieht auf den Pausenhöfen die roten Trikots mit dem Bullenkopf. In den USA trinken Kinder und Jugendliche Gatorade wegen Michael Jordan, kauen ihren rosafarbenen Kaugummi extravagant und obszön und tragen Schweißbänder am Ellenbogen. Talkshow-Star Oprah kündigt Jorden in ihrer Sendung an mit: "Der berühmteste Mensch des Planeten ist hier." Der ehemalige US-Präsident Barack Obama, in Chicago aufgewachsen, erzählt: "Vor Jordan gab es keine Probleme, Tickets für die Bulls zu bekommen. Dann hat er der Stadt zu Bedeutung verholfen und alle Menschen um sich geschart."

Auch die menschliche Seite Jordans, die in seiner Karriere selten zum Vorschein kam, blitzt immer wieder auf. Der Titelgewinn 1996 fällt auf den Vatertag. Jordan bricht direkt nach dem Schlusspfiff des finalen Meisterschaftsspiels auf dem Boden zusammen, den Ball in seinen Händen, und weint. Es ist der erste Titel seit seiner Rückkehr; nach dem Mord an seinem Vater beendete er seine Karriere ein erstes Mal.

Dann gibt es diese Szene, als seine Mutter einen Brief aus College-Zeiten vorliest, in dem Jordan sich für seine hohen Telefonkosten entschuldigt und um Geld bittet, weil er nur noch 20 Dollar in der Tasche hätte. Mit den Drogeneskapaden seiner Mannschaftskameraden in den ersten Bulls-Jahren will Jordan nichts zu tun haben. Er erzählt, wie er sie mit Kokain, Marihuana und Frauen in einem Hotelzimmer erwischt und sich fortan zurückzieht. Für ihn gibt es nur eine Droge: den Sieg.

"Niemand wird so hart arbeiten wie ich"

Dieser unbändige Wille ist ein Fokuspunkt des Films. Wenn "The Last Dance" mit Jordan allein beim minutiösen Wurftraining in der Halle beobachtet. Oder wenn der Basketballer zu seiner Zeit an der University of North Carolina sagt: "Niemand wird jemals so hart arbeiten wie ich." Er will unbedingt der Beste sein, dafür trainiert er wie kein zweiter. Gleich im ersten Jahr gewinnt er die College-Meisterschaft, trifft dabei den entscheidenden Wurf. Auch in der NBA macht er sich den Druck, sofort der Top-Spieler zu werden. "Am ersten Tag des Trainings schaute ich, wer ist der beste Spieler im Team", erzählt Jordan. "Ihn wollte ich dann mit meinem Spiel schlagen." Und seine Mitspieler realisieren schnell, dass ein neuer Boss im Team angekommen ist. "Wie war der Übergang von der Uni in die NBA?", wird Jorden von einem Reporter gefragt. "Der war ziemlich einfach", antwortet der. Schon als Jungspieler strotz er vor Selbstbewusstsein, angetrieben wird er von Aussagen seiner Zweifler.

Heute lebt die NBA von wendigen Spielern, die von der Dreipunktelinie treffen. Das hat auch Jordan beeinflusst. Als er 1984 in die NBA wechselt, wird er als zu klein betrachtet. 16 der letzten 20 MVP-Trophäen für den wertvollsten Spieler sind zuvor an Center gegangen. "Wir wünschten uns, dass er 2,15 Meter groß wäre", sagen die Bulls. Die NBA-Ikone Walt Frazier verkündet damals: "Michael muss realisieren, dass er nicht 2,13 Meter groß ist und dass er deshalb nicht ein NBA-Team anführen kann." Erst Jordan zeigt, dass Guards die NBA dominieren können, dass Sprungwürfe Titel gewinnen können. Kraft und Größe beherrschen die Liga als Jordan eintritt, Schnelligkeit, Technik und Skill als er sie verlässt. Bis heute.

In der Saison 1997/98 gewinnt Jordan den dritten Titel in Folge als bester Scorer der NBA, den zehnten insgesamt. Zeigt der Film, wie er anfangs seiner Karriere den Fans mit krachenden Dunks jedes Spiel ein Spektakel bietet, ist es sein Jumpshot, der ihm seinen letzten Titel gewinnt. Über die Jahre stellt der Basketballstar sein Spiel um, weil auch sein Körper älter wird, weil die überragende Athletik zumindest etwas nachlässt. Sein Sprungwurf - und später sein Fadeaway - aus der Mitteldistanz wird zu einer der gefährlichsten und meistkopiertesten Waffen in der Basketball-Geschichte. In den Playoffs 1998 trifft der damals 34-Jährige 56 Prozent seiner Mitteldistanz-Würfe. Nach seiner finalen Bulls-Saison schafft nie wieder ein Basketballprofi diese Dominanz aus der Mitteldistanz: 671 Körbe trifft Jordan aus dieser Entfernung 1997/98, mit großem Abstand folgt Dirk Nowitzki auf Platz zwei mit 564 in der Saison 2005/06.

Wieder ist es Jordans unglaubliche Arbeitsethik, die ihn auf diese Art und Weise dominieren lässt. Bulls-Coach Jackson sagt Jahre nach dem Titelgewinn 1998: "Der schwächste Teil von Michaels Spiel war früher der Wurf. Er erlernte etwas, von dem jeder sagte, er könne es nicht, als er vom College in die NBA kam - und zwar durch werfen, werfen, werfen."

Jordan wird ein Business

"The Last Dance" zeigt den Jordan von heute als Zigarren rauchenden, in Villen lebenden Ex-Sportler, wie es viele davon heutzutage gibt. Aber es ist in den 1990er-Jahren der Basketball-Star, der besonders afroamerikanischen Athleten den Weg ebnet, am Business des Sports teilzuhaben und an ihrem Erfolg auch persönlich zu verdienen. Dank seiner Vorarbeit ist es heute ist normal, dass Basketball- oder Fußballspieler ihre eigenen Schuhe oder Parfüms haben und in etlichen Werbespots oder schon mal in großen Filmproduktionen mitspielen. Er startet mit seinen Air-Jordan-Sneakers, baut daraus seine Jordan-Marke und übernimmt später das Basketballteam Charlotte Hornets. Michael wird zu MJ wird zu einem Symbol: das personifizierte "Air Jordan"-Logo, der durch die Luft fliegende Megastar. Jordan ist sein eigenes Business-Unternehmen.

Aber Basketballspielen ist Jordan immer am wichtigsten, das zeigt die Dokumentation. Der Beste sein. Um jeden Preis. Bulls-Coach Jackson hält das Handbuch in die Kamera, das er vor der Saison 1997/98 an seine Spieler verteilt. "I, II, III, IV, V, VI - The Last 'Dance'", steht darauf geschrieben. Jordan und Co. wissen: Noch einmal kommen wir eine Saison zusammen, this is it. Der zweite Titel-Dreierpack in Folge soll her. Der letzte Tanz, der bis ins Finale führt. Das Michael Jordan höchst selbst entscheidet.

Quelle: ntv.de


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