Wissenschaftler genießen in der Coronakrise eine bisher nicht gekannte Sichtbarkeit. Kaum ein Politiker hält eine Rede ohne Verweis auf aktuelle Forschungsergebnisse, Talkshows kommen ohne akademischen Teilnehmer selten aus, und viele Virologen haben inzwischen sogar ihren eigenen Podcast.
Das Problem: Die Ansagen aus "der Wissenschaft" sind längst nicht immer eindeutig. "Die Wissenschaft" - allein der Begriff ist schon problematisch. Schließlich suggeriert er eine Einheitlichkeit im Erkenntnisprozess, die es normalerweise nicht gibt. Für die Öffentlichkeit kann die daraus resultierende Ambivalenz eine Zumutung sein: Die eine rät dies, der andere das.
Manch einem reißt deswegen der Geduldsfaden, Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet zum Beispiel. In der ARD-Talkshow "Anne Will" ereiferte sich der CDU-Politiker am Sonntag über Virologen, die "alle paar Tage ihre Meinung ändern". Da müsse die "Politik dagegenhalten". Zuerst, so Laschet, sei es darum gegangen, im Gesundheitssystem Zustände wie in Italien zu verhindern. Dann habe sich die Diskussion um die Reproduktionszahl gedreht. Und nun diskutiere man über die Zahl der Neuinfektionen pro Tag. Die Virologen, so der Ministerpräsident, müssten auch mal eindeutige Aussagen treffen.
Sonderausgabe des Wissenschaftsbarometers
Einmal abgesehen davon, dass der Bedeutungswechsel von Verdopplungszeit zu Reproduktionszahl keine Kurskorrektur der Virologen beinhaltet, sondern ganz natürlich mit dem Verlauf der Pandemie zu tun hat (was Laschet wissen könnte), gehört es zum Wesen der wissenschaftlichen Debatte, dass es allgemeine Gewissheiten normalerweise nicht gibt. Spätestens sobald neue Erkenntnisse auf dem Tisch liegen, müssen alte Ergebnisse womöglich über Bord geworfen worden. Und auch Einigkeit zwischen Fachkollegen ist selten. Wissenschaft lebt vom Diskurs, oft auch Dissens. Das kann schwer zu ertragen sein.
Doch eine aktuelle Meinungsumfrage im Auftrag der Organisation "Wissenschaft im Dialog" zeigt, dass weite Teile der Öffentlichkeit mit dem Problem offenbar souverän umgehen können. Für eine Sonderausgabe des sonst jährlich veröffentlichten Wissenschaftsbarometers wurden 1009 Menschen vom Meinungsforschungsinstitut Kantar telefonisch um Auskunft gebeten.
Dabei gab die Hälfte der Befragten an, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Corona-Debatte deutlich unterscheiden würden zwischen gesichertem Wissen und noch offenen Fragen (25 Prozent stimmten der Aussage "voll und ganz" zu, weitere 26 Prozent stimmten "eher zu"). Rund zwei Drittel (35 Prozent "stimme voll und ganz" zu, 32 Prozent "stimme eher zu") zeigten sich außerdem überzeugt, Kontroversen zwischen Forschenden seien hilfreich, damit sich die richtigen Ergebnisse durchsetzen. Nur vier Prozent sahen das grundsätzlich anders.
"Gerade jetzt zeigt sich, wie wichtig es ist, dass möglichst viele Menschen die Grundsätze wissenschaftlicher Arbeit nachvollziehen können. Das sollte für Forscher ein Ansporn sein, noch stärker hervorzuheben, dass wissenschaftliche Erkenntnisse vorläufigen Charakter haben und Annahmen sich ändern können – und dass unterschiedliche Interpretationen zur wissenschaftlichen Diskussion dazugehören", so Katrin Rehak-Nitsche von der Robert Bosch Stiftung.
Starker Anstieg der Zustimmung im Vergleich zu Vorjahren
Die Stiftung ist Partner von "Wissenschaft im Dialog", zu den Gesellschaftern gehören unter anderem Wissenschaftsorganisationen wie Helmholtz- und Leibnitz-Gemeinschaft sowie Max-Planck- und Fraunhofer-Gesellschaft, aber auch Akademien wie die Leopoldina oder acatech.
Drei von vier Menschen in Deutschland gaben in der aktuellen Befragung an, dass sie Wissenschaft und Forschung vertrauen. In den vergangenen Jahren hatte dies nur rund die Hälfte so erklärt. Vor allem der Teilwert, man vertraue der Wissenschaft "voll und ganz" stieg im Vergleich zur Befragung im Jahr 2019 stark an. Damals lag er bei 9 Prozent, jetzt bei 36.
"Das Kapital der Experten ist aufgebraucht, das Image der Virologen angekratzt", schreibt der Berliner Historiker und Publizist René Schlott gerade in einem SPIEGEL-Gastbeitrag. Die Ergebnisse der Befragung geben das einstweilen nicht her, selbst wenn man einrechnet, dass sie am 15. und 16. April erhoben wurden. Und dass sicher ein Teil der Teilnehmer "sozial erwünschte" Antworten gegeben hat.
Wie viel Einmischung in die Politik wird als sinnvoll empfunden
Es bleibt ein positives Bild von der Rolle der Forschenden: Fast 90 Prozent der Befragten halten die Expertise von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für wichtig, um die Verbreitung des Erregers zu verlangsamen. Und 61 Prozent rechnen damit, dass es in absehbarer Zeit gelingen wird, ein Medikament oder einen Impfstoff zu entwickeln. Auch das wird in Labors und Krankenhäusern passieren, nicht in Sitzungssälen.
Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik hält die Sonderausgabe des Wissenschaftsbarometers auch interessante Ergebnisse bereit: 81 Prozent der Befragten wollen demnach, dass politische Entscheidungen beim Thema Corona auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Aber nur 39 Prozent sieht es als Aufgabe von Forschenden an, sich selbst in die Politik einzumischen. Beinahe genauso viele Teilnehmer der Umfrage, 32 Prozent, lehnen das ab. Weitere 26 Prozent der Befragten sind unentschieden.
Dass die Teilnahme von Wissenschaftlern an der politischen Debatte für diese manchmal nicht ohne ernst zu nehmende persönliche Probleme verlaufen kann, beweist der Fall des Virologen Christian Drosten von der Charité. Er ist einer der prominentesten Köpfe in der Corona-Diskussion. Auch er hat seine Aussagen im Licht neuer Erkenntnisse mehrfach korrigiert und das auch transparent gemacht, etwa bei der Frage von Schulschließungen. Zuletzt machte er im Interview mit der britischen Zeitung "Guardian" öffentlich, dass er Morddrohungen erhalte. "Für viele Deutsche bin ich der Bösewicht, der die Wirtschaft lähmt", so Drosten.
spiegel
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