Jessica Soyka-Kloeters, 34, Heilerziehungspflegerin, betreut Menschen mit Behinderung

  29 April 2020    Gelesen: 985
Jessica Soyka-Kloeters, 34, Heilerziehungspflegerin, betreut Menschen mit Behinderung

Das öffentliche Leben steht still, doch einige Menschen halten die Gesellschaft am Laufen. Hier kommen sie zu Wort.

 Lebenshilfe Heinsberg
Die Region Heinsberg zwischen Aachen und Mönchengladbach ist Epizentrum des Coronavirus. Im Schnitt kommen in Deutschland auf 100.000 Personen derzeit gut 100 Covid-19-Fälle, in Heinsberg sind es etwa 600. Seit Ausbruch der Coronakrise im Februar sind Schulen und Kindergärten zu. Erst drei Wochen später wurden auch die Werkstätten für Menschen mit Behinderung behördlich geschlossen. In Heinsberg ermöglichen sie 1200 Mitarbeitern mit Behinderung die Teilhabe am Arbeitsleben und beruflichen Bildungsangeboten, etwa in der Landschaftspflege oder der Industriemontage. Rund ein Drittel der Mitarbeiter werden wegen ihrer komplexen Behinderung im Förderbereich intensiv begleitet.

Viele von ihnen leben in Wohnstätten oder Wohngemeinschaften. Sie werden im Alltag rund um die Uhr betreut. Die Lebenshilfe Heinsberg hat sich früh für einen unkonventionellen Weg entschieden: Sie hat die Fachkräfte der gerade geschlossenen Werkstätten dazu aufgerufen, sich zur Unterstützung in Wohneinrichtungen im gesamten Kreis Heinsberg zu melden, um dort bei der Tagesbetreuung mitzuhelfen.

Auch Jessica Soyka-Kloeters, 34, hilft mit. Sie ist seit 2008 Heilerziehungspflegerin. Derzeit in einem intensiv betreuten Wohnhaus in Hückelhoven im Kreis Heinsberg. 

"Die momentane Situation ist die intensivste in meinem Berufsleben. Unser Alltag mit den Bewohnern ist durch das Virus stark eingeschränkt. Um Ablenkung zu schaffen, kochen wir gemeinsam, machen Gesellschaftsspiele, dekorieren die Wohnung oder den Gemeinschaftsraum. In Einzelbetreuung können wir das Haus für kleine Spaziergänge auch mal verlassen; mehr ist nicht möglich. Da ist es klar, dass die Stimmung unter den Bewohnern gereizter wird, gerade bin ich häufig Streitschlichterin. Worte wie "Corona" oder "Virus" will keiner der Bewohner mehr hören. Sie brauchen gerade mehr Abstand und Raum für sich.  

Wir unterstützen Menschen in ihrem Alltag, die aufgrund ihrer kognitiven und körperlichen Beeinträchtigung Hilfestellungen brauchen. Einige Bewohner haben eine autistische Diagnose, andere eine psychische Erkrankung. Die aktuelle Situation ist für alle ungewohnt. Das führt bei vielen Bewohnern zu Unsicherheiten oder Ängsten. Es fehlt die gewohnte Tagesstruktur, die Arbeitskollegen - vor allem aber Freunde und Familie. Auch Angehörige dürfen die Wohngemeinschaften während der Kontaktbeschränkungen nicht besuchen. Einige Bewohner führen Beziehungen und haben ihren Partner seit Wochen nicht gesehen. Die Vorfreude auf den nächsten Ausflug wird gerade immer wieder enttäuscht. Nichts ist so, wie es sein sollte.

In der Betreuung sind wir gerade noch stärker gefordert, vor allem mit Empathie, Geduld und Verständnis. Wir organisieren Telefonate und die Angehörigen schreiben Briefe und schicken Präsente. Das soll vor allem zeigen, dass man aneinander denkt. Nicht immer können wir damit Sorgen oder Trauer nehmen.

Während der Betreuung tragen wir momentan permanent Mundschutz. Ständiges Desinfizieren von Flächen, Handläufen und Türklinken gehört zu unserem Alltag. Andere Vorsichtsmaßnahmen, wie Abstand halten, sind in einer Wohngemeinschaft dagegen kaum möglich. Gerade jetzt ist es umso wichtiger, nicht auf Distanz zu gehen. Das könnten einige Bewohner als Abneigung verstehen. Wir nehmen die Menschen auch in den Arm und zeigen ihnen, dass sie nicht allein sind. Gerade in dieser Zeit..Zeigt einer der Bewohner Symptome, dürfen wir nur noch mit zusätzlichen Handschuhen auf dem Zimmer versorgen. Eine Bewohnerin ist gerade in Quarantäne, eine weitere als Hochrisikopatientin eingestuft. Auch viele aus meiner Familie sind Risikopatienten. Natürlich ist da auch immer die Angst, dass ich mich bei der Arbeit anstecken könnte. Ich habe einen vierjährigen Sohn, der gerade nicht in die Kita gehen, der seine Großeltern und Freunde nicht sehen kann, das belastet mich zusätzlich. Dennoch möchte ich helfen, denn Menschen mit Behinderungen werden gerade oft vergessen.

Unsere Werkstatt war noch geöffnet, da mussten Kindergärten und Schulen längst schließen. Das war für uns Fachkräfte eine große Herausforderung, nicht nur wegen der Hygienevorschriften. Vermutlich betrachtet die Politik unsere Werkstätten als klassische Unternehmen. Wir produzieren ja Güter, Paletten, Verpackungen für Gläser – solche Dinge. Ich glaube, dass die Politik bis heute nicht verstanden hat, welche Aufgaben und Verantwortung Behindertenwerkstätten eigentlich haben. Corona verstärkt dieses Gefühl; das ist ungerecht. Ich würde mir wünschen, dass es normal wird, verschieden zu sein."

spiegel


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