Testen, Testen, Testen. Dieses Mantra gehört zur Coronakrise seit den ersten Tagen der Pandemie. Ob Weltgesundheitsorganisation, Virologen, Ökonomen oder Politiker, hier waren sie sich einig: Es müsse mehr getestet werden. Denn wer viel prüft, findet neue Fälle und Infektionsherde, kann infizierte Menschen frühzeitig behandeln, die Ausbreitung des Virus eindämmen.
Doch in Deutschland waren die Testzahlen zuletzt rückläufig. In der vorvergangenen Woche - neuere Daten liegen noch nicht vor - wurden laut dem Robert Koch-Institut (RKI) lediglich 323.449 Tests auf das Sars-CoV-2-Virus durchgeführt. Das sind fast 85.000 weniger als zwei Wochen zuvor. Selbst wenn man einen Stillstand am Ostermontag einrechnet, sinkt die Zahl pro Tag. Dabei sind die Testkapazitäten zum Nachweis von Infektionen so hoch wie nie zuvor: 818.426 Menschen könnten laut RKI theoretisch pro Woche getestet werden. Aber in der Praxis wird weniger als die Hälfte davon in Anspruch genommen.
"Es ist ein ganz schlechtes Zeichen, dass so sparsam getestet wird und die Kapazitäten nicht ausreichend genutzt werden", sagt der Virologe Alexander Kekulé im Gespräch mit dem SPIEGEL: "Gerade jetzt in der Lockerungsphase müssen wir massiv testen, um Risikogruppen zu schützen und Infektionsherde zu verhindern." Auch der Ökonom Clemens Fuest, Chef des Münchener ifo-Instituts und Mitautor des Leopoldina-Konzepts zur Lockerung der Corona-Maßnahmen, ist irritiert. "Das Testen ist offensichtlich nicht Teil der politischen Strategie. Aber wir können die Wirtschaft viel besser ins Laufen bringen, wenn wir massenhaft testen. Es würde enorm helfen."
Wieso werden die Testkapazitäten nicht besser genutzt?
Das RKI selbst will offenbar nur mutmaßen: "Die Zahl der Tests könnte gesunken sein, weil die Zahl der Covid-Erkrankungen - und damit einhergehenden Verdachtsfälle - gesunken ist", schreibt eine Sprecherin auf Anfrage des SPIEGEL. "Auch der deutlich gesunkene Anteil an akuten Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung könnte eine Rolle spielen." Dies hieße, dass es zurzeit schlicht und einfach nicht genug Menschen gibt, die sich testen lassen wollen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat keine Erklärung für das Phänomen - und verweist auf die ALM, den Interessenverband der akkreditierten medizinischen Labore in Deutschland.
Laut ALM-Geschäftsführerin Cornelia Wanke fehlen vielen Laboren schlicht und einfach die Aufträge: "Der Arzt eines Patienten muss auf die Laboranforderung schreiben, einen Sars-CoV2-Test zu machen. Was nicht bei uns ankommt, kann nicht getestet werden." Dies könne daran liegen, dass viele Arztpraxen zuletzt geschlossen waren. Aber auch daran, dass viele Menschen noch immer den Eindruck hätten, sie dürften sich nur unter strengen Voraussetzungen testen lassen – so wie am Anfang der Pandemie. Damals gab es noch zu wenige Testmöglichkeiten.
"Es ist eine groteske Situation. Sechs Wochen lang haben die Menschen vom RKI immer wieder gehört: Nur Kranke werden getestet. Die Ärzte haben nur Patienten zum Test geschickt, wenn diese symptomatisch waren, und die gesetzliche Krankenversicherung hat nur dann gezahlt", sagt Arndt Rols, Professor für Neurorestauration an der Universität Rostock und Gründer der Gentestfirma Centogene. "Jetzt bringen die Labore ihre Kapazitäten hoch. Aber die werden gar nicht abgerufen - wegen der fehlerhaften Informationspolitik des RKI."
Durch die gelockerten Vorgaben könnten viel mehr Menschen getestet werden
Die Zeiten, als es mancherorts an Reagenzien oder Abstrichtupfern mangelte, sind vorbei, sagt Cornelia Wanke vom ALM. "Es gibt keine Materialknappheit mehr. Für die von uns angegebenen Testkapazitäten ist genug Material verfügbar." Das RKI hat seine Testkriterien vor einigen Tagen gelockert. Neuerdings empfiehlt es, auch Patienten zu testen, die keiner Risikogruppe angehören und keine Kontakte zu Infizierten hatten - vorausgesetzt, sie haben Atemwegsbeschwerden. Dies könnte die Zahl der Tests nach oben bringen, zumal die gesetzlichen Kassen die Kosten übernehmen.
"Das RKI hat die Vorgaben zu spät gelockert", kritisiert Virologe Kekulé. "Es hätte frühzeitig dafür sorgen sollen, dass die Testkapazitäten besser genutzt werden. Aber da kamen keine klaren Empfehlungen." Umso wichtiger sei es nun, von der aufgebauten Infrastruktur Gebrauch zu machen - und auch Menschen ohne Krankheitssymptome gezielt zu testen. Vor allem um die Risikogruppen zu schützen: etwa Pfleger und Besucher in Altenheimen.
Dies fordert auch der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit vom Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin. "Es verwundert mich, dass nicht mehr getestet wird, wenn die Kapazitäten vorhanden sind", sagt Schmidt-Chanasit dem SPIEGEL. Man müsse jetzt verstärkt Altersheime und Krankenhäuser durchtesten: Bewohner und Patienten, Mitarbeiter und Besucher. Und die Gesundheitsämter könnten Menschen im Umfeld von Infizierten gezielt durchchecken, auch wenn die Kontaktpersonen noch keine Symptome zeigen. "So könnten wir frühzeitig eine stille Ausbreitung verhindern", sagt Schmidt-Chanasit. "Es wäre sinnvoll, jetzt Geld in Testungen zu investieren."
Der Profifußball darf hoffen
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will die Zahl der Tests nun erheblich ausweiten. Am Mittwoch berät das Kabinett über einen Gesetzesentwurf aus Spahns Haus. Dieser sieht vor, dass das Ministerium die gesetzlichen Krankenversicherer per Verordnung verpflichten kann, Tests auf das Coronavirus grundsätzlich zu bezahlen. Damit würden "auch symptomunabhängige Tests" möglich, erklärte eine Sprecherin auf SPIEGEL-Anfrage. Bis zu 4,5 Millionen Tests pro Woche könnte es geben. Wer die Kosten von zu 1,5 Milliarden Euro pro Monat trägt, ist noch unklar. Die Krankenversicherer wehren sich - und fordern, die Bundesländer sollten sie übernehmen.
Profiteur der Unterauslastung vieler Labore könnte die Fußball-Bundesliga werden. Sie braucht nach eigenen Angaben bis zum 30. Juni insgesamt 25.000 Corona-Proben, um die unterbrochene Saison zu Ende zu spielen. Politiker wie der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hatten den Neustart-Plan kritisiert, da die Profifußballer mehrere zehntausend Tests verbrauchen würden, die womöglich in Pflegeeinrichtungen und Schulen fehlen würden.
Aber zumindest im Moment gibt es gar kein solches Verteilungsproblem. Alle befragten Laborverbünde hätten "schriftlich versichert, dass die derzeitigen Kapazitäten ausreichend sind und dass durch Covid-19-Tests von Spielern der Bundesliga und 2. Bundesliga keine Einschränkungen oder Limitierungen der Testkapazitäten auftreten", erklärt die Deutsche Fußball Liga in einer Stellungnahme. Der Profi-Fußball würde von den derzeit verfügbaren Kapazitäten "nicht einmal 0,4 Prozent belegen." Zudem werde man über das geplante Testvolumen hinaus für 500.000 Euro weitere Testkapazitäten zur Verfügung stellen.
Mediziner Schmidt-Chanasit hat keine Einwände. "Aus virologischer Sicht sind genügend Tests da. Solange niemandem anderen etwas weggenommen wird, spricht nichts dagegen, die Sportler regelmäßig zu testen." Und so könnte es passieren, dass die Spiele bald wieder beginnen. Der Profifußball wäre dem RKI zu Dank verpflichtet.
spiegel
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