Frühling der Berber

  22 Februar 2016    Gelesen: 787
Frühling der Berber
Nach Jahrzehnten wird ein Sprachenkonflikt endlich eingedämmt, andere Unruheherde aber bleiben
Ist Algerien ein sicheres Herkunftsland, in das man Flüchtlinge zurückschicken kann? Bis zu den scheußlichen Übergriffen auf Frauen in Köln während der Silvesternacht konnten Algerier in Deutschland zumindest mit Duldung rechnen. Inzwischen hat eine Neubewertung des Maghreb-Staates begonnen. Während früher strenge, oft willkürliche Kriterien in puncto Demokratie und Menschenrechte galten, scheint jetzt nur noch die Frage relevant zu sein, ob in einem nordafrikanischen Land gerade ein Bürgerkrieg stattfindet oder nicht. Dabei sollte ins Gewicht fallen, dass Algerien eine dem Syrienkonflikt ähnliche Erschütterung zwischen 1992 und 1999 erlebt hat, die schließlich durch einen massiven Einsatz der Armee abklingen konnte.

Dafür wurde das Land wegen schwerer Menschenrechtsvergehen, die ebendiese Streitkräfte an den islamistischen Aufständischen begangen haben sollen, von der Europäischen Union heftig kritisiert und mit Boykotten belegt. Dann jedoch wendete sich das Blatt. Nach dem 11. September 2001 wurde Algerien über Nacht zum Verbündeten des Westens im Anti-Terror-Kampf, blieb aber für die EU ein Staat mit unzureichenden zivilisatorischen Standards. Ungeachtet dessen haben sich Wirtschaftskontakte sowie kooperative Sicherheitsbeziehungen entwickelt, die besonders der Sahara gelten.

Seit September 2015 versucht nun die algerische Regierung – vermutlich auf Wunsch des kranken Präsidenten Abd al-Aziz Bouteflika –, durch den Entwurf für eine revidierte Verfassung ihr internationales Renommee zu verbessern. Die algerischen Medien, in denen bereits seit Ende der 80er Jahre relativ frei debattiert werden kann, bezweifeln allerdings mehrheitlich, ob diese Inventur wirklich zu einem Rechtsstaat führt, in dem die Menschenrechte respektiert werden.

Geburtsfehler behoben

Am meisten erstaunt bei der Lektüre des Verfassungsentwurfs, dass künftig einem Präsidenten nur noch zwei Amtsperioden gewährt sein sollen. Es war immerhin Bouteflika selbst, der sich eine dritte und mittlerweile vierte Amtszeit durch Verfassungsrevisionen genehmigt hat. Könnte der nächste Staatschef einer ähnlichen Versuchung widerstehen? Zu Recht wird von Kritikern darauf hingewiesen, dass diverse Verfassungsänderungen, zu denen es seit der Unabhängigkeit im Jahr 1962 kam, das Vertrauen der Bürger in den Staat keineswegs gestärkt haben.

Uneingeschränkt positiv sehen die meisten Kommentatoren, dass es mit dem Tamazight – der Sprache der ein knappes Drittel der Bevölkerung stellenden Berber – neben dem Arabischen endlich eine zweite offizielle Sprache geben soll. 1992 war das Tamazight zunächst als zweite Nationalsprache anerkannt worden. Mit der sich jetzt abzeichnenden Entscheidung wäre ein Geburtsfehler behoben, der dem Land seit der Unabhängigkeit schadete und zu unnötiger Konfrontation führte.

1980 brachen die Unruhen des sogenannten „Berber-Frühlings“ aus, als der Dichter Mouloud Mammeri auf dem Weg zur Universität von Tizi Ouzou festgenommen wurde, wo er einen Vortrag über das berberische Kulturerbe halten wollte. Nach der Jahrtausendwende blieb es bei jahrelangen Kontroversen. Es ging erneut um das Statut des Berberischen, obwohl seit Einführung einer formalen Demokratie 1988 private Aktivitäten gestattet waren, die der Kultur der Berber dienten. Die Aktivisten verlangten mehr Engagement des Staates. Sie wollten, dass die Sprache der Berber nicht nur als freiwilliges Schulfach geduldet, sondern überall in Algerien zum Pflichtfach erhoben würde. Obgleich dem zugrunde lag, dass sich einst die arabophone Mehrheit aus ethnischen Berbern rekrutiert hatte, war diese natürlich kaum für derartigen Maximalismus zu gewinnen.

Dank der geänderten Verfassung sollen künftig offizielle Dokumente zweisprachig gedruckt werden. Zugleich dürfen amtliche Formulare auf Arabisch oder Berberisch ausgefüllt werden. Geplant ist der Aufbau einer Akademie des Tamazight, die eine Vereinheitlichung der verschiedenen Berber-Dialekte anstoßen soll, auch wenn das Kabylische dominiert. Die Globalisierung erfordert jedoch, dass jeder, der in höhere Berufssphären aufsteigen will, auch das Französische beherrscht. Dessen nach wie vor große Rolle als Funktionssprache der algerischen Eliten wird durch die Promotion des Berberischen nicht tangiert.

Hinter dem in den zurückliegenden Jahrzehnten immer wieder aufgebrochenen Sprachenstreit stand keine politische Diskriminierung von Berbern. Sie sind sowohl in der militärischen wie der politisch-administrativen Elite des Landes eher überrepräsentiert. Die unerbittlichsten Arabisierer in den Bildungsinstituten waren zumeist Kabylen. Dass sich sozialer Protest gerade in der Kabylei stärker als in anderen Regionen Algeriens entfaltete, hängt sicher damit zusammen, dass die ersten und schließlich auch die meisten Arbeitsemigranten von dort nach Frankreich auswanderten und an Klassenkämpfen teilnahmen.

Doch war die Kabylei nicht nur die Region, von der aus am heftigsten um die Demokratisierung des Landes gerungen wurde, hier konnten sich auch die meisten islamistischen Gegenkräfte – und das für lange Zeit – formieren. Insofern ist mit dem Sprachenkonflikt nur einer der Sprengsätze entschärft, die das Land aus den Angeln heben können. Im Süden marodieren islamistische Kampfverbände, im Norden grassiert die Arbeitslosigkeit der unter 30-Jährigen, weil der Verfall der Erdölpreise die Devisenreserven mindert und damit auch staatlichen Investitionen Grenzen setzt.

Dennoch, seit angekündigt ist, dass die Wertigkeit der Berber-Sprache dem Arabischen angeglichen wird, befinden sich in Algerien viele Vereine, die nie es aufgaben, das berberische Kulturerbe zu pflegen, in Hochstimmung. So geriet am 1. Januar die Beerdigung des Mannes, der immer Symbolfigur einer Emanzipation der Berber gewesen war, zu einem Akt des Triumphs. Hocine Ait Ahmed – 1926 in dem kabylischen Dorf Ait Yahia zur Welt gekommen – war der letzte noch lebende „historische Führer“, der zusammen mit acht Gleichgesinnten am 1. November 1954 die Attentate koordiniert hatte, mit denen der Unabhängigkeitskrieg begann. Ait Ahmed gehörte zu den Mitgliedern der provisorischen Regierung, deren Flugzeug 1956 von der französischen Luftwaffe gekapert wurde. Nachdem 1962 der souveräne algerische Staat ausgerufen war, führte er in der Kabylei einen Aufstand an, der sich gegen die Einheitsliste der Staatspartei FLN wandte, auf Demokratie und regionale Autonomie gerichtet war.

Die Regierung flieht

Als die Rebellion scheiterte, wurde Ait Ahmed zum Tode verurteilt, konnte aber in die Schweiz fliehen. Dort betrieb er den Aufbau des Front des Forces Socialistes (FFS), einer Partei, die bald schon zur Sozialistischen Internationale (SI) gehören sollte. 1988 wurde der FFS in Algerien legalisiert, musste sich die Führung der Berber-Bewegung aber mit anderen Parteien teilen. Obwohl Ait Ahmed nicht für alle Berber sprach und als Präsidentschaftskandidat mehrfach unterlag, blieb er unangefochten die überparteiliche Integrationsfigur.

1991, nachdem die Islamische Heilsfront FIS den ersten Wahlgang bei den fälligen Parlamentswahlen gewonnen hatte, bewohnte ich zufällig das Zimmer im Hotel Aletti, das über dem Balkon lag, von dem aus Ait Ahmed über Stunden eine halbe Million Menschen begrüßte, die von der Kabylei her bis Algier marschiert waren, um immer wieder – auf Arabisch – zu skandieren: „Volk und Regierung – bewahrt die Demokratie!“ Ait Ahmed trug einen roten Schal, damals ein Markenzeichen überzeugter Sozialdemokraten.

Hunderttausende Algerier aus allen Regionen wollten nun auch am Begräbnis in Ait Yahia, dem Heimatort des Toten, teilnehmen. Ait Ahmed hatte es zu Lebzeiten stets abgelehnt, auf dem Friedhof der nationalen Helden begraben zu werden. Die Regierung, die eine achttägige Staatstrauer verhängt hatte, folgte dem aus der Schweiz überführten Sarg, wurde aber durch Steinwürfe am Betreten von Ait Yahia gehindert und kehrte umgehend nach Algier zurück. Der Abgang erinnerte an Flucht.

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