Warum Migranten gegenüber Flüchtlingen skeptisch sind
"Die sind anders als wir", sagt Amir am Telefon. Er, der selbst mit drei Jahren als Flüchtling aus dem Iran nach Hamburg einreiste und sich längst als Wilhelmsburger fühlt. Nicht alle Flüchtlinge seien schlecht, sicher, aber viele hätten einfach eine andere Mentalität, eine andere Kultur, sagt Amir: "Die sollen sich hier anpassen." Da ist diese unsichtbare Mauer. Wir und die.
In Skepsis vereint: Migranten und Deutsche
Wer durch die sozialen Netzwerke streift, in "Bürgerwehr"-Gruppen mitliest und sich durch die Kommentarspalten der AfD-Fanseiten klickt, begegnet immer häufiger Einträgen von Menschen mit ausländischen Wurzeln, aus denen Misstrauen gegenüber den Neuankömmlingen spricht. Sie fordern "Grenze dichtmachen!" und sorgen sich um das wohlgeordnete Deutschland. Es ist kein rein digitales Phänomen und auch keine Position einer radikalen Minderheit.
Auch im Alltag gibt es diese Stimmen, man hört sie in Hamburg auch bei Informationsveranstaltungen zu Flüchtlingsheimen. Dieses diffuse Gefühl lässt sich mit konkreten Zahlen untermauern: In einer Umfrage von infratest dimap für die "Welt am Sonntag" von Ende November finden 40 Prozent der Deutschen mit Zuwanderungsgeschichte, Deutschland solle weniger Flüchtlinge aufnehmen als derzeit. 24 Prozent sagen sogar, Deutschland sollte gar keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. Das sind 64 Prozent der Migranten, also den Menschen, die laut Definition des Zensus 2011 nach dem Jahr 1955 zugewandert oder in Deutschland geborene Ausländer sind und alle mit zumindest einem nach 1955 zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil. Damit unterscheiden sich diese Menschen in ihrer Skepsis kaum von Deutschen ohne Migrationshintergrund.
Dabei müssten Menschen wie Amir doch eigentlich Verständnis haben, Empathie für jene Menschen, die wie er damals Schutz suchen.
"Es ist anders", sagt Wolfgang Kaschuba, Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung. "Die skeptische Reaktion einiger Migranten auf Neuankömmlinge ist ein bekanntes Muster, das wir auch schon bei früheren Einwanderungsbewegungen gesehen haben. Viele Migranten haben noch nicht das Sicherheitsgefühl, zur Gesellschaft dazuzugehören. Sie machen sich Sorgen, mit den `Neuen` in einen Topf geworfen zu werden."
Es geht um sozialen Status, nicht Herkunft
Der Forscher beschreibt die Bevölkerung als konzentrischen Kreis, wie eine Art Zielscheibe. Das "Wir", die deutsche Mehrheitsgesellschaft, liegt in der Mitte. Jeder neu hinzukommende äußere Kreis, jetzt die Flüchtlinge, schiebt den davor liegenden Kreis, die schon hier lebenden Migranten, etwas weiter nach Innen, Richtung "Wir". Eine Art ungeplante Integration, ein neues Gemeinschaftsgefühl – aber auf Kosten der ganz Neuen.
"Einige der Migranten glauben, durch eine kritische Haltung gegenüber Flüchtlingen dem inneren Kreis näherzukommen – gerade weil der deutsche Diskurs seit Silvester ins Negative gekippt ist." Sozialwissenschaftler Kaschuba beschreibt Integrationsschritte an einem Beispiel wie diesem: Die erste Welle der Gastarbeiter kam in den 1950er-Jahren, sie malochten in der Zeche oder am Band bei VW. Der deutsche VW-Kollege blieb zuerst skeptisch, aber nach einer Zeit sagte er: Italiener finde ich immer noch komisch, aber mein neuer Kollege Luigi, der ist okay. Als dann Jahre später türkische Arbeiter kamen, wunderten sich der deutsche und deutsch-italienische Arbeiter gemeinsam über die Hinterwäldler aus Anatolien. Der Prozess geht weiter: Heute, sagt Kaschuba, sagen dann Menschen mit türkischen Wurzel: "Was sollen wir in Deutschland denn mit den neuen Flüchtlingen?"
Einige der Migranten glauben, durch eine kritische Haltung gegenüber Flüchtlingen dem inneren Kreis näherzukommen
Wolfgang Kaschuba
Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung
Doch so einfach ist es nicht. "Herkunft ist nicht die zentrale Erklärung für die Skepsis gegenüber Flüchtlingen", erklärt der Sozialwissenschaftler. Es gehe eher um den sozialen Status. Und konkret um die Lebenswelt des einzelnen Migranten: Um die türkischstämmige Supermarkt-Kassiererin, die sich eher in Konkurrenz um Jobs und billigen Wohnraum mit den Flüchtlingen sieht als der iranische Ingenieur. Um Muslime, die in einer liberalen Gemeinde beten, und vor rückständigen, arabischen Männern warnen, die da nun kommen.
Russlanddeutsche, der Fall Lisa und die Flüchtlinge
Der 24. Januar ist ein wolkenverhangener Tag in Hamburg, 600 Menschen, vor allem Russlanddeutsche, ziehen in dichten Reihen Richtung Jungfernstieg. Russische und deutsche Flaggen wehen, auf selbst gebastelten Plakaten steht: "Wir wollen nicht in Angst leben" und "Kriminalität muss bestraft werden". Ein Redner ruft ins Mikrofon: "Wir wollen Sicherheit für unsere Kinder und für unsere Frauen!" In diesen Tagen erhitzt der Fall Lisa die Kommentarspalten, ein 13-jähriges Mädchen aus Berlin-Mahrzahn mit russischen Wurzeln, angeblich vergewaltigt von Flüchtlingen. Nur: Der Übergriff fand nie statt, in den Wochen danach wird das Mädchen der Staatsanwaltschaft beichten, sie sei bei einem Freund untergetaucht – die Schulnoten. Doch die schon damals bestehenden Zweifel interessieren an diesem Sonntag niemanden.
Seit Tagen heizen die russischen Nachrichten den Fall an, raunen vom "Kontrollverlust" der deutschen Behörden. "Objektiv nahm nur ein kleiner Teil der Community an den Demos teil", sagte Jannis Panagiotidis, Juniorprofessor für "Russlanddeutsche Migration und Integration" an der Universität Osnabrück. Er geht von bundesweit 10.000 Teilnehmern aus. Etwa zwei Millionen Russlanddeutsche leben in Deutschland, insgesamt gelten sie als gut integriert, aber politisch unsichtbar. Panagiotidis hat sich Videos und Bilder der Demos angesehen und findet: "Dort lief durchaus ein Querschnitt der Community mit, nicht nur junge Hitzköpfe." Russlanddeutsche verstehen sich zuerst als Deutsche, sie legen Wert auf ihr Deutschtum, das gesellschaftlich allerdings manchmal infrage gestellt wird. Bei den aktiven Teilnehmern sei das Bedürfnis, sich von den Flüchtlingen abzugrenzen, deshalb recht stark, sagt Panagiotidis.
Es gebe in Deutschland einen stärker werdenden Bevölkerungsteil, der in der Flüchtlingsfrage für sich entschieden hat: "Wir schaffen es eben nicht." Die russischen Medien plustern diese Strömung in der Debatte auf. Der Migrationsforscher sagt: "Der Fall `Lisa` war nur der spezifische Funke, der an ein Grundgefühl der Verunsicherung anknüpft, das es auch bei `Biodeutschen` gibt." Das Verhalten sei also eher ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, nicht Ergebnis einer abgeschlossenen Gettomentalität einer Migrantengruppe. Viele der älteren Russlanddeutschen kommen zwar selbst aus ehemaligen Sowjetstaaten, die multiethnisch geprägt waren, doch seien irritiert darüber, dass es in Deutschland in wachsender Zahl "Ausländer" gebe, erklärt der Migrationsforscher. "Sie kamen mit einem anderen Deutschlandbild, hatten vielleicht eine andere Hoffnung."
Die andere Seite: Migranten, die helfen
Das ist die eine Seite, Menschen mit eigener Zuwanderungsgeschichte, die sich Sorgen machen. Die andere Seite sind die vielen Hamburger Migranten, die helfen. Da sind die vielen Dolmetscher, die am Hauptbahnhof übersetzen und für ihre Landsleute das Sprachrohr in eine neue Welt sind. Die Sozialmanager der Unterkünfte, die Neuankömmlinge auch deshalb besonders gut verstehen, weil sie selbst eine Fluchtgeschichte haben.
Der syrische Arzt in Blankenese, der unermüdlich nach privaten Wohnungen für die Gestrandeten sucht. Und Gemeinden wie die Al-Nour-Moschee in St.Georg, die im Sommer nachts bis zu 600 Flüchtlinge auf der Durchreise nach Schweden in ihrem Gebetsraum beherbergte, einer umfunktionierten Tiefgarage. "Selbstverständlich" ist so eine Haltung für den Vorsitzenden Daniel Abdin. Eine ablehnende Stimmung erlebe er in seiner Gemeinde nicht. "Das fände ich auch paradox, wenn man selbst geflüchtet oder zugewandert ist. Was ist, wenn Deutschland so auf uns reagiert hätte?"
Migrationsexperte Wolfgang Kaschuba entgegnet: "Wir können nicht erwarten, dass Menschen mit eigener Flucht- und Migrationserfahrung, mit oft prekärem Status in der Gesellschaft, sofort am solidarischsten sind." Die Herkunft ist es nicht, die entscheidend für die Haltung ist. Sondern jeder Einzelne.
Quelle: WELT.DE