Inmitten dieser Spaltung steht Boris Johnson, der Bürgermeister von London. Der momentan beliebteste Politiker Großbritanniens hatte Anfang der Woche für einigen Aufruhr gesorgt. Am Sonntag trat er für wenige Minuten vor sein Haus im schicken Nordlondoner Stadtteil Islington – erwartet von Dutzenden Journalisten. Fotografen hatten Leitern mitgebracht, Kameraleute verstopften die Straße, Nachbarn erschienen an den Fenstern, um zu sehen, wem der Auflauf galt. Nein, Boris Johnson sei kein Mitglied der königlichen Familie, fühlte sich eine BBC-Moderatorin später bemüßigt zu sagen. Das Spektakel galt der Frage, wie es Johnson mit der britischen Gretchenfrage hält: Rein oder Raus aus der EU? Raus, sagte Johnson. Und das politische Kommentariat bebte.
Johnson gilt als Wählerwunderwaffe, begnadet mit der seltenen Gabe, Menschen über Parteiengrenzen hinweg anzusprechen. Er ist einer der wenigen, vielleicht der einzige britische Politiker, den die Menschen nur beim Vornamen nennen und selbst von hinten erkennen. In den vergangenen Tagen, als die Medien heiß liefen mit Spekulationen darüber, wie "Boris" sich entscheiden würde, überbrückten die Marktforscher von Ipsos Mori das Warten mit einer Umfrage, der zufolge Johnson nach Cameron am zweitmeisten Einfluss darauf habe, ob die Briten am Referendumstag im Juni mit Bleiben oder Gehen stimmen werden. Kurzum: Boris Johnson ist eine heiß begehrte Trophäe im Kampf um Referendumsstimmen. Dass die Raus-Seite sie jetzt eingeheimst hat, gilt als herber Schlag für Premierminister Cameron.
Wie entscheidet sich die Finanzlobby?
Den Schlag könnte allerdings auch das Finanzzentrum der Londoner City spüren, deren Interessen Londons Noch-Bürgermeister bis zur Neuwahl Anfang Mai eigentlich vertreten sollte. Das britische Pfund gab nach dem Outing von Johnson jedenfalls kräftig nach. So schlimm war es zuletzt bei der Finanzkrise vor sieben Jahren. Die Financial Times sprach schon von einem "Boris-Effekt". Die Rating-Agenturen Moodys und Fitch Ratings verkündeten bereits, bei einem Austritt Britanniens müsse man dessen Kreditwürdigkeit neu überprüfen.
Was mit der britischen Wirtschaft und dem Londoner Finanzzentrum passieren wird, wenn am 23. Juni der Brexit beschlossen wird, ist ungewiss. 100.000 Jobs könnten allein in der City verloren gehen, fürchten die einen. Der konservative Europa-Abgeordnete Sajjad Karim warnte schon vor zwei Jahren, ein EU-Austritt werde die Londoner City zerstören. Andere beruhigen, der Schaden sei nur kurzfristig, auf Dauer könne der Brexit sogar dem Finanzzentrum nützen. Der Chef-Risikomanager des Versicherers Lloyds, Sean McGovern, wiederum warnt, dass der Austritt der britischen Versicherungswirtschaft schaden werde.
In dieser Woche will sich die City of London Corporation, die Lobbyorganisation des Finanzzentrums, entscheiden, ob sie den Brexit empfiehlt oder nicht. Sie solle bitteschön neutral bleiben, wurde Anfang der Woche in einem offenen Brief von Bankern und Geschäftsleuten gefordert – unterschrieben von mehr oder weniger bekennenden Euroskeptikern. Hinter dem Aufruf zur Unparteilichkeit könnte also die Angst stehen, dass die Banker sich EU-freundlich äußern könnten. Dazu neigt in jedem Fall Mark Boleat, der politische Chef der Lobby-Vereinigung.
Neu-Brexit-Held Boris Johnson ist (oder war) seinerseits gespalten. "Dafür zu bleiben spricht", schrieb er vor wenigen Wochen, "dass es in unserem geostrategischen Interesse ist, ziemlich eng mit den Angelegenheiten eines Kontinents verbunden zu sein, der eine grimmige Geschichte hat, und dessen Seelenqualen Millionen von Briten ihr Leben gekostet haben. Die Geschichte zeigt, dass sie uns brauchen. Auszutreten würde von vielen als ein negatives Signal für Europa gesehen. Es würde viele unserer engsten Freunde verstimmen, nicht zuletzt die Osteuropäer, für die die EU eine gute Kraft war: für Stabilität, Offenheit und Wohlstand." John Rentoul, einer der bekanntesten britischen Politkommentatoren, twitterte bissig: Er freue sich darauf, wie Boris erklären werde, was nach diesen Sätzen ihn doch zum Brexit bewogen habe.
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