Hans-Jochen Vogel redet sich regelrecht in Rage. Dabei hat ARD-Moderatorin Anne Gesthuysen ihn anlässlich des 150. SPD-Geburtstages im Jahr 2013 nur gefragt, wer seine Partei brauche. "Ja, Entschuldigung, unser Volk braucht die SPD. Europa braucht die Sozialdemokraten. Es ist die Situation, dass sich die soziale Kluft wieder verbreitert. Und es bedarf Anstrengungen, diese soziale Kluft zu schließen. Es bedarf Anstrengungen, die Neoliberalen zu bremsen und den Staat wieder an die erste Stelle zu rücken", blafft Vogel die Journalistin an. Kämpferisch wie eh und je - auch im hohen Alter. Geht es um die SPD, dann ist mit ihrem ehemaligen Vorsitzenden nicht zu spaßen. Richtig in Fahrt gekommen, wettert Vogel auch noch gegen die ständig präsenten Umfragen. Für ihn zähle das Ergebnis und nichts anderes, schreit er ins Mikrofon.
Einige Monate später wird sich seine Stimmung nicht verbessert haben, denn die SPD verlor mit ihrem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück die Bundestagswahl. Vielleicht war der alte Mann der deutschen Sozialdemokratie auch deshalb so wütend, weil er ahnte, dass seine Partei auch nicht annähernd an die 30-Prozent-Marke herankommen würde. Wenn es der SPD schlecht ging, dann litt auch Hans-Jochen Vogel.
Dabei hat er alle Höhen und Tiefen des politischen Lebens erlebt, an vielen Wahlabenden Rede und Antwort gestanden und versucht, Wahlergebnisse zu erklären. Zumal er selbst einmal bei einer Bundestagswahl als Spitzenkandidat eine schwere Niederlage einstecken musste: am 6. März 1983, als die Union, die gut fünf Monate zuvor eine Koalition mit der FDP eingegangen war, mit 48,8 Prozent die absolute Mehrheit nur knapp verfehlte, und die Sozialdemokraten auf 38,2 Prozent abrutschten. Helmut Kohl bekam damals die politische Legitimation als Bundeskanzler. Heute wäre ein Ergebnis nur wenig unter der 40-Prozent-Marke ein Traumergebnis für die SPD, aber 1983 war es ein Desaster.
Dabei war Hans-Jochen Vogel nicht der Mann, der in die erste Reihe drängte. Aber er ließ sich in die Pflicht nehmen, so auch bei besagter Wahl, zu der der gerade erst gestürzte Bundeskanzler Helmut Schmidt aus verständlichen Gründen eine erneute Spitzenkandidatur ablehnte. Aber in der SPD hat man Vogel einfach alles zugetraut. Er brauchte auch nicht lange überredet zu werden, um das 1983er Himmelfahrtskommando zu übernehmen, wohl wissend, dass ihm das Amt des Bundeskanzlers nicht gerade auf den Leib geschnitten war.
Dass er auch eine Nummer eins sein kann, hatte Vogel jedoch kurz zuvor als Regierender Bürgermeister in West-Berlin bewiesen. Er sprang im Januar 1981 als Feuerwehrmann ein, nachdem der dortige Stobbe-Senat im Bauaffären-Morast um den Unternehmer Dietrich Garski versunken war. Fast ein halbes Jahr lang saß Vogel im Rathaus Schöneberg. Er konnte allerdings nicht verhindern, dass die SPD nach der Abgeordnetenhauswahl am 10. Mai 1981 erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Regierungsverantwortung abgewählt wurde und die CDU mit Richard von Weizsäcker das Ruder übernahm. Politisch geschadet hat das Vogel aber nicht. Im Gegenteil: Im Bonner Erich-Ollenhauer-Haus war man ihm regelrecht dankbar, dass er es hinbekommen hat, die Berliner SPD einigermaßen zu stabilisieren.
Dabei war Vogel bei seinen Genossen nicht immer wohlgelitten. "Ich bin den Menschen manchmal auf die Nerven gegangen", gab er in einem Interview selbst zu. Es war das Penible, weshalb er mitunter gefürchtet wurde. Dabei fand sich Vogel gar nicht penibel, er bezeichnete sich selbst als akkurat. Mit der Bezeichnung Oberlehrer ging er dagegen locker um. Sie seien Personen, die vieles besser wüssten, sagte er einmal. Er nehme dies als Kompliment, zumal auch Helmut Schmidt so charakterisiert worden sei. Überhaupt Schmidt: Bis zu seinem Lebensende sprach Vogel voller Hochachtung von seinem ehemaligen Chef, dem er von 1974 bis 1981 als Bundesjustizminister gedient hatte: "Er wusste es manchmal auch besser." Vogel war einer der wenigen Politiker, die Schmidt als Freund bezeichnete.
Akkurat, immer informiert - und mit Klarsichthülle
Andere aber fürchteten diese Akkuratesse, sprachen allerdings ebenfalls voller Hochachtung über ihn. So Anke Fuchs, die unter dem SPD-Bundesvorsitzenden Vogel vier Jahre lang dessen Bundesgeschäftsführerin der Partei war. Sie sei so manches Mal mit einem flauen Gefühl im Magen in Vorstandssitzungen gegangen, gestand sie. Vogel habe einfach den Überblick gehabt und sei bis ins kleinste Detail informiert gewesen. Sie habe es selten geschafft, besser vorbereitet als ihr Chef zu sein. Dass Fuchs Vogels einzige Bundesgeschäftsführerin in seiner Zeit als SPD-Chef blieb, zeugt aber davon, dass er mit ihrer Arbeit zufrieden gewesen sein muss.
Zumal Vogel seine Eigenarten selbst wahrnahm und mitunter ganz witzig damit umging. So wurde seine Liebe zur Klarsichthülle in der Öffentlichkeit ausgebreitet, Vogel nahm es mit Humor. Als sein jüngerer Bruder Bernhard, der in der CDU Karriere machte und Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz und Thüringen war, zum Besten gab, dass er als Kind die Modelleisenbahn erst in Betrieb nehmen durfte, "als Hans-Jochen den Fahrplan erstellt hatte", honorierte er das mit einem Lächeln. Das sei wohl etwas übertrieben, sagte Vogel lediglich. Und es gab noch eine andere Begebenheit: So klingelte Vogel als Minister mitten in der Nacht einen Referenten aus dem Schlaf, weil ihm ein wichtiges Detail fehlte.
Aber dieser Sinn für das Detail war es, der Vogel so wertvoll machte. Da kam der Jurist durch - und Vogel war ein guter. 1950, im Alter von 24 Jahren, machte er seine Magna-cum-laude-Promotion zum Dr. jur. Ein Jahr später folgte das zweite juristische Staatsexamen - natürlich mit der Note "sehr gut". Und der junge Mann muss als Assessor im bayerischen Justizministerium so überzeugt haben, dass er 1955 - als die CSU mal nicht regierte - in die Münchner Staatskanzlei geholt wurde. Von dort aus führte der Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner als Ministerpräsident eine Vier-Parteien-Koalition. Doch 1958 war Schluss, weil die Schwarzen wieder die Macht übernahmen.
Dagegen kam Vogels Karriere ins Rollen: Nach dem kurzen SPD-Intermezzo in der bayerischen Staatsregierung wurde er 1960 Oberbürgermeister von München - mit nur 34 Jahren. Er stürzte sich in die Rathausgeschäfte und krempelte sie um. Das Stadtplanungsamt übernahm Vogel gleich selbst. Die Millionenstadt bekam eine U-Bahn und eine ausgedehnte Fußgängerzone im Zentrum. Vogels größter Erfolg war aber der Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 1972, die er allerdings nicht mehr als OB verfolgte, weil er sich mit der Münchner SPD überworfen hatte. Er litt so sehr darunter, dass er mit der Politik aufhören wollte.
Es war Bundeskanzler Willy Brandt, der den Gestrauchelten auffing. Er drängte Vogel, Politiker zu bleiben und machte ihn zum Bauminister - für den bisherigen Kommunalpolitiker ein guter Start in die Bundespolitik. Unter Brandt-Nachfolger Schmidt bekam er 1974 die Verantwortung über das Justizministerium, das er bis zu seinem kurzen Ausflug nach Berlin 1981 leitete. Und diese Zeit sollte Vogel besonders prägen. Der Terror der Rote-Armee-Fraktion (RAF) stellte eine besondere Herausforderung für den Kanzler und seinen Justizminister dar. Im Fall des 1977 entführten und später ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer war Vogel Mitglied des Krisenstabs und bestärkte Schmidt darin, den Forderungen der Terroristen nicht nachzugeben. Die sozialliberale Bundesregierung ließ sich auch nicht erpressen - das war ein wichtiges Signal an die Adresse der RAF-Terroristen.
Vogel dachte immer in größeren Zeiträumen, und das machte ihn für die SPD in der Oppositionszeit sehr wertvoll. Wie Herbert Wehner sah auch er 1982 voraus, dass die Regierungsmacht für die Sozialdemokraten für längere Zeit unerreichbar bleiben wird. Acht Jahre lang arbeitete er sich im Bundestag als Fraktionschef an der Regierung Kohl ab. Als einer der ersten Politiker sah Vogel die Möglichkeit, dass es irgendwann zu einer Koalition seiner SPD mit den Grünen kommen könnte.
Hilflos musste er allerdings mit ansehen, wie Kohl nach der politischen Wende in der DDR die Gunst der Stunde ergriff und damit seine bröckelnde Macht in Bonn retten konnte. Die SPD erlitt mit ihrem Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 eine schwere Niederlage, weil sie in der Frage des Wie zur Deutschen Einheit zerstritten war. Nicht Vogel, sondern Lafontaine bestimmte den Kurs. Umso enttäuschter war Vogel, dass es der Saarländer 1991 ablehnte, den SPD-Vorsitz zu übernehmen, sodass Björn Engholm in die Bresche springen musste. Vogel war erbost über Lafontaine, weil dieser seiner Meinung nach gegenüber der SPD verantwortungslos handelte.
Demokratie nicht nur Sache der Politiker
Obwohl er 1994 aus dem Bundestag ausschied, trieb Vogel die Politik weiter um. So sorgte er sich um den fortschreitenden Nationalismus in Europa. Den Populismus sah er als eine ernsthafte Herausforderung und große Gefahr für das europäische Projekt. Allgemeine Kritik von Bürgern an der Politik ließ er jedoch nicht durchgehen. Im Gegenteil: Er nahm die Bürger in die Pflicht. "Demokratie muss von den Menschen gewollt und getragen werden", sagte er: "Jeder einzelne Mensch ist für die Demokratie mitverantwortlich."
Aber auch die politische Klasse bekam ihr Fett weg: "Ein Umstand beunruhigt mich. Nämlich die Tatsache, dass man im Fernsehen im Plenarsaal oft auch nur dann vierzig oder fünfzig Abgeordnete sieht, wenn wichtige Dinge beraten werden", sagte er einmal ntv.de: "Das erweckt den Eindruck, der Bundestag nehme sich selbst nicht besonders ernst. Das war früher anders."
Hans-Jochen Vogel war wahrlich kein Politiker, für den früher alles besser war. Das hatte er in Interviews immer wieder deutlich gemacht. Aber Vogel war eben nicht nur Sozialdemokrat, sondern auch Parlamentarier mit Leib und Seele.
ntv
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