In der libanesischen Hauptstadt Beirut ist seit dem Abend des 4. August nichts mehr, wie es war. Das krisengebeutelte Land mit Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und Hyperinflation wird von zwei riesigen Detonationen erschüttert. Die Schreckensbilanz: weit über 100 Tote, Tausende Verletzte, bis zu 300.000 Menschen sind obdachlos. 2750 Tonnen Ammoniumnitrat haben für die Katastrophe gesorgt.
Am Hafen zeugt nur noch ein riesiger Krater von der großen Lagerhalle, in der die gefährliche Chemikalie untergebracht war. Das Material stammt von einem Frachtschiff, das 2013 auf dem Weg von Georgien nach Mosambik war. Wegen verschiedener Mängel sei es in Beirut festgesetzt worden, sagt die libanesische Regierung. Die Reederei habe das Schiff ein Jahr später aufgegeben. Die gefährliche Ladung sei daraufhin in die Lagerhalle am Hafen gebracht worden. Dort lag sie sechs Jahre lang herum. Bis zur Katastrophe.
Eingesetzt wird Ammoniumnitrat bei kontrollierten Sprengungen in der Bauindustrie, vor allem aber als Stickstoffdünger in der Landwirtschaft. Allerdings darf der Stoff in Deutschland nur unter Sicherheitsauflagen verwendet werden, "weil man eben weiß, dass Ammoniumnitrat zu solchen Explosionen führen kann", sagt Klaus Köhler, Professor für Anorganische Chemie an der TU München, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Die Chemikalie darf, sofern sie nicht für kontrollierte Sprengungen eingesetzt wird, auch nicht in reiner Form gelagert oder transportiert werden.
Lagerung entscheidend
Wenn man vernünftig mit Ammoniumnitrat umgeht, ist es ungefährlich. Hobbygärtner, die im Baumarkt oder Gartencenter zum Düngemittel für die Pflanzen im Garten greifen, müssen sich keine Sorgen machen. Für den privaten Gebrauch dürfen nur Düngemittel mit einem sehr niedrigen Stickstoffanteil verkauft werden. "Wenn man es nicht vermischt, kann es auch kein Feuer fangen", erklärt Köhler. "Im Prinzip kann sich Ammoniumnitrat gar nicht entzünden, es ist nicht brennbar."
Gefährlich wird es erst, wenn es eine Initialzündung gibt. Das kann eine Explosion in unmittelbarer Nähe sein. Dann läuft die Zersetzung von Ammoniumnitrat anders ab. Durch die Hitze entstehen Wasserdampf, Sauerstoff und Stickstoff. "Bei deren Bildung wird sehr viel Energie freigesetzt und es entsteht eine riesige Gasmenge. Das ist mit einer riesigen Volumenvergrößerung verbunden. Für einen Sprengstoff wünscht man sich das", so Köhler.
Entscheidend ist deshalb, wo und unter welchen Bedingungen Ammoniumnitrat gelagert wird. Die Chemikalie muss unbedingt von Brennstoffen und Wärmequellen ferngehalten werden, um Detonationen wie in Beirut zu verhindern. Im Libanon wurden diese Regeln anscheinend ignoriert. An dem betroffenen Lagerhaus soll es Reparaturarbeiten gegeben haben. In libanesischen Medien heißt es, Schweißarbeiten an einer Tür könnten die Katastrophe in Gang gesetzt haben.
Dabei sind die Gefahren offensichtlich, wie ein Blick in die Geschichte zeigt. Die Liste der Ammoniumnitrat-Katastrophen ist lang. 1921 explodierte ein Stickstoffwerk des Chemiekonzerns BASF in Ludwigshafen-Oppau. Über 550 Menschen wurden getötet. 1947 starben ebenfalls mehr als 500 Menschen, als in Texas City ein Schiff mit Ammoniumnitrat an Bord explodierte. 2004 starben im Iran 300 Menschen, als ein Zug mit Düngemittel in die Luft ging. 2015 explodierte in China ein Lagerhaus, 173 Menschen kamen dabei ums Leben.
Die Ursache ist fast immer die gleiche. Es fehle Transportunternehmen und Firmen, die den Stoff lagern, teilweise an Gefahrenbewusstsein, sagt Klaus Köhler. "Man muss sich dessen bewusst sein, dass Ammoniumnitrat eben nicht nur ein einfaches Salz oder ein Düngemittel wie jedes andere ist, sondern gleichermaßen auch ein Sprengstoff."
Terroristen nutzen Ammoniumnitrat zum Bombenbau
Als dieser ist er in der Vergangenheit auch mehrfach in die falschen Hände geraten. Der Attentäter von Oklahoma City hatte 1995 beim Bombenbau zwei Tonnen der Substanz eingesetzt. 168 Menschen starben. Der norwegische Rechtsterrorist Anders Behring Breivik nutzte Ammoniumnitrat beim Bau der Autobombe, mit der er 2011 acht Menschen im Osloer Regierungsviertel tötete und seinen Amoklauf begann. Auch die libanesische Hisbollah scheint bereits mit der Chemikalie in Kontakt gekommen zu sein. Es gibt Berichte, wonach die Miliz mehrere Hundert Kilogramm Ammoniumnitrat in Kühlpads in Süddeutschland gelagert hatte. Bis die deutschen Sicherheitsbehörden davon Wind bekamen und das Mittel zerstörten. Es heißt sogar, die Hisbollah habe den Hafen in Beirut kontrolliert. Das sei der Grund für die unzureichende Lagerung des Materials gewesen.
Doch trotz all dieser Katastrophen und Terroranschläge mit Tausenden Toten können wir auf Ammoniumnitrat nicht verzichten. In der Landwirtschaft gebe es keine ähnlich effiziente Alternative, macht Klaus Köhler deutlich. "Ohne künstliche Stickstoffdüngung könnten wir schätzungsweise zwei Drittel der Menschen auf der Welt nicht mehr ernähren. Die Bevölkerungsexplosion zu Beginn des 20. Jahrhunderts war gekoppelt an die künstliche Ammoniak-Synthese."
Ohne den Kunstdünger hätten viele Menschen auf der Welt nicht genug zu essen. Auch heute nicht. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt umgekehrt aber auch, dass ein Fehler damit viele Menschenleben kosten kann. Das nächste Beirut, Oppau, Texas City oder China ist wohl nur eine Frage der Zeit.
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