Nachdem sich der Sieben-Tage-Durchschnitt der täglich gemeldeten Neuinfektionen im Juni vorübergehend Richtung 200 bewegte und dann lange Zeit kaum über 500 kletterte, hat sich der Trend seit Mitte Juli wieder umgekehrt. Fast täglich werden höhere Fallzahlen registriert, zuletzt waren es 1266. So viele hatte es seit dem 9. Mai nicht mehr gegeben.
RKI ist "sehr beunruhigt"
Das RKI ist über die Entwicklung "sehr beunruhigt", eine weitere Verschärfung der Situation müsse unbedingt vermieden werden, heißt es im aktuellen Situationsbericht. "Das gelingt nur, wenn sich die gesamte Bevölkerung weiterhin engagiert, zum Beispiel, indem sie Abstands- und Hygieneregeln konsequent - auch im Freien - einhält, Innenräume lüftet und, wo geboten, eine Mund-Nasen-Bedeckung korrekt trägt.
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach beurteilt die Situation dramatischer, der Start der zweiten Corona-Welle sei "eindeutig", twitterte er. So weit geht Gesundheitsminister Spahn nicht. Mit den derzeitigen Ansteckungszahlen könne das Gesundheitswesen zwar noch gut umgehen, sagte er im Deutschlandfunk. Aber Spahn sieht durchaus die Gefahr einer zweiten Welle. Der Anstieg könne eine Dynamik entfalten, nannte er das im Deutschlandfunk. Denn es gebe inzwischen viele kleinere und größere Ausbrüche im ganzen Land, bei denen die Ansteckungswege nicht mehr so einfach nachzuverfolgen seien. Deswegen wäre es gut, wenn es jetzt zumindest eine Stabilisierung in dieser Größenordnung gebe.
Vergleich mit Mai-Zahlen hinkt
Tatsächlich hinkt der Vergleich mit den Mai-Zahlen etwas. Denn die Neuinfektionen verteilen sich anders, haben oft andere Ursprünge und die Zahl der durchgeführten Tests ist jetzt viel höher als noch vor drei Monaten. So gibt es jetzt laut RKI viele kleinere Ausbrüche, die auf größere Feiern im Familien- und Freundeskreis oder bei anderen Freizeitaktivitäten auftreten. Dazu kommen große Infektionsgeschehen in Agrarbetrieben und der Fleisch-Industrie. Hinzu komme, dass Covid-19-Fälle zunehmend unter Einreisenden identifiziert würden, steht im aktuellen Situationsbericht.
Entsprechend den Ausbrüchen bei Partys oder nach Auslandsreisen ist auch das Durchschnittsalter der Infizierten seit Anfang Mai von 48 auf jetzt 34 Jahre gesunken. Gleichzeitig werden nur noch sechs Prozent der Covid-19-Patienten stationär behandelt, vor drei Monaten waren es noch rund 20 Prozent. Ebenso sank die Sterberate deutlich von fünf auf unter 0,5 Prozent.
Nach den Reisebeschränkungen steckten sich im Mai fast alle Infizierten in Deutschland an. In der aktuellen Meldewoche 32 sind es mit insgesamt 1777 Fällen 31 Prozent, also fast ein Viertel der Neuinfektionen. Mit großem Abstand waren die meisten Infizierten im Kosovo (1096), gefolgt von der Türkei (501) und Kroatien (260).
Mehr Tests, aber auch mehr positive Ergebnisse
Schließlich muss man bei der Beurteilung der Infektionslage auch berücksichtigen, dass die Anzahl der Tests stark gestiegen ist. In der Woche des 9. Mai (KW 19) zählte das RKI rund 400.000 Tests, drei Monate später in KW 31 waren es fast 578.000. Dabei fielen im Mai noch rund drei Prozent positiv aus, jetzt sind es knapp ein Prozent.
Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass die gestiegene Zahl der gemeldeten Neuinfektionen alleine auf mehr Tests zurückzuführen ist. Man kann aus diesem Vergleich lediglich schließen, dass es im Mai vermutlich wesentlich mehr Covid-19-Fälle gab, als tatsächlich gemeldet wurden. Stattdessen muss man die Entwicklung seit den Tiefstständen heranziehen. In der letzten Juni-Woche waren 0,8 Prozent der Tests positiv, dann sank der Anteil bis auf 0,6 Prozent und erreichte erst in der letzten Juli-Wochen wieder die 1-Prozent-Marke. Wäre der Anstieg der Neuinfektionen alleine auf die größere Zahl der Tests zurückzuführen, hätte dieser Wert konstant bleiben oder sinken müssen.
Die Lage ist ernst, aber noch nicht dramatisch
Man kann also sagen, dass die aktuellen Zahlen zwar dramatischer aussehen, als sie es tatsächlich sind. Aber die Neuinfektionen nehmen trotzdem deutlich zu. Und auch ein vergleichsweise leichter Anstieg kann heute gefährlicher als vor drei Monaten sein. Denn wie das RKI und Experten wie Virologe Christian Drosten immer wieder betonen, hat sich das Virus zwar in geringen Zahlen, aber in der Fläche ausgebreitet. Es können sich jetzt also schneller und überall neue Cluster scheinbar aus dem Nichts bilden.
Dazu kommen die Schul- und Kita-Öffnungen. Und während nach dem Beginn der Pandemie Frühling und Sommer die Situation verbesserten, kommt jetzt die kalte Zeit, in der sich die Menschen wieder vor allem in Innenräumen aufhalten, wo die Gefahr einer Infektion durch Aerosole am höchsten ist.
Auch wenn man wohl noch nicht von einer zweiten Welle die Rede sein kann und die Lage noch weitgehend im Griff ist, kann sich die Situation also schnell ändern. Leichtsinn ist nicht angebracht und die Sommerparty muss wohl oder übel ein Ende haben.
Quelle: ntv.de
Tags: