Der deutsche Olympiaheld, der alles verlor

  28 Februar 2016    Gelesen: 1200
Der deutsche Olympiaheld, der alles verlor
Nils Schumann war ein deutscher Held. Olympiasieger, Sportler des Jahres, Medien-Darling. Dann ging es bergab, beruflich wie privat. Er fing ganz unten wieder an und startete eine neue Karriere.
Die Frage ist hypothetisch, und dennoch hat der 800-Meter-Läufer Nils Schumann sie sich dann und wann selbst gestellt: Was, wenn er 2000 bei den Olympischen Spielen in Sydney nicht Gold, sondern bloß Silber gewonnen hätte?

Die Antwort auf diese Frage ist nur eine Ahnung, mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch lautet sie: Sein Leben wäre wohl anders verlaufen, weniger extrem. Schumann sagt: "Ein zweiter Platz wäre auch gut gewesen. Dann hätte ich noch Ziele gehabt für die nächsten Jahre, für die ich alles hätte geben können. Das war mir ein bisschen genommen."

Nils Schumann, 37, hat jetzt ein Buch geschrieben. "Lebenstempo – In Alltag und Sport den eigenen Rhythmus finden" ist Titel und Plädoyer gleichermaßen. Entstanden ist ein durchaus lesenswerter Ratgeber mit starken autobiografischen Elementen, zwischen den Zeilen auch eine Art Abrechnung mit dem System Leistungssport.

Es ist zudem ein Blick in die Seele eines früheren Spitzensportlers, der Aufstieg und Fall, Triumph und Tragödie erlebt hat. Der frühzeitig erkannte, dass olympisches Gold nicht per se ein Segen ist. Der Existenzängste überwand und heute Parallelen zu Goethes berühmtestem Werk zieht: "Mein Leben ... kam mir vor wie eine ungeschriebene Fortsetzung von `Faust`, nachdem er diesen Moment unbeschränkten Glücks tatsächlich erlebt hat."

Als Autor schont Schumann sich selbst nicht, gesteht Fehler seines Lebens offen ein. Zu Beginn des Schreibens sei ihm das schwergefallen. Es gebe Phasen, die er "gern nicht öffentlich diskutiert hätte", gibt er zu. Aber: "Ich wollte ehrlich sein, auf keinen Fall ein oberlehrerhaftes Buch schreiben aus Sicht des letzten deutschen Lauf-Olympiasiegers, sondern zeigen, dass doch auch in meinem Leben manches schiefgelaufen ist und dass ich als Ex-Leistungssportler ebenso mit Alltagsproblemen zu kämpfen habe wie andere auch."

Von einem "gedanklichen Podest herunterholen", nennt es der zweifache Familienvater. Es hat ihn "ein Stück weit frei gemacht". Das Hauptziel seines Erstwerks, verfasst mit zwei befreundeten Co-Autoren? "Den Leuten eine gewisse Angst, ihnen den Stress nehmen und sie davon abzuhalten, Fitness als das nächste Hamsterrad in ihrem Leben zu betrachten."

Nils Schumann vergleicht sich mit Boris Becker und Jan Ullrich

Hamsterräder. Damit kennt Nils Schumann sich aus. Er steckte selbst jahrelang drin. Eine Freude war das weiß Gott nicht immer. Auf den ersten Blick ist Ruhm ja so verlockend: Preise, Prominenz, Fanpost, Ehrungen, Einladungen zu "Wetten, dass..?", Galas, Sponsorenterminen. Und plötzlich, zumal als Leichtathlet (!): Geld. Derart viel, dass er zeitweise drei Autos besaß und noch einen alten Opel hinzukaufte, um seine Dogge transportieren zu können.

Schumann weiß: Er ist Anfang der 2000er-Jahre der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, "ganz so, als hätten die Deutschen auf mich gewartet". Er war: "Ein grundsympathischer Junge aus Thüringen, den die Deutschen sich gerade als ihren neuen Sportstar herbeisehnten. Ich wirkte nicht so emotionslos wie Michael Schumacher, nicht so einfach gestrickt wie Jan Ullrich und nicht so vernebelt wir Boris Becker."

Der eloquente Newcomer, "Sportler des Jahres 2000", genoss seine jähe Popularität in vollen Zügen. Er war 22, die Welt stand ihm offen. Und doch wurde ihm der Hype bald suspekt, wirkte der höchstmögliche Erfolg, den er erreicht hatte, wie eine Droge, deren Wirkung nach und nach ihren Zauber verlor. Wenn jeder ein Stück vom Ruhm abhaben will, zerkrümelt der fast zwangsläufig.

Brisanter Fund im Kühlschrank des Dopingtrainers Springstein

"Statt durch meinen frühen großen Sieg an Selbstsicherheit gewonnen zu haben, pendelte ich zwischen Versagensängsten und trotzigem Hochmut", schreibt Schumann in der Einleitung seines Buchs über die Zeit nach seinem Olympiasieg.

Unbedingter Trainingsfleiß? Nun ja. Erste Verletzungen setzten ihm zu. 2001 wurde Schumann noch einmal WM-Fünfter, 2002 EM-Dritter, im selben Jahr lief er das schnellste Rennen seiner Karriere (1:44,16 Minuten). Es sollten seine letzten großen Erfolge bleiben. Die Achillessehne spielte nicht mehr mit.

Es folgten fast vier Jahre ohne Rennen, Operationen, Vereins- und Managementwechsel, Comebackversuche und Tölpeleien. Einmal brach sich Schumann den Oberarm beim Armdrücken. Dann unternahm er den umstrittenen Versuch, unter Anleitung des später wegen Minderjährigendopings zu 16 Monaten Haft auf Bewährung verurteilten Trainers Thomas Springstein wieder in Tritt zu finden.

Die Liaison mit dem kurioserweise zum "Trainer des Jahres 2002" gekürten Magdeburger – nach Schumanns Angaben auf explizite Empfehlung des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) eingegangen – bescherte dem Läufer Ende 2006 ein Doping-Ermittlungsverfahren des DLV.

In Springsteins Kühlschrank waren bei einer Hausdurchsuchung Dopingpräparate sowie eine Liste gefunden worden, auf der ein "N" notiert war. N wie Nils? Beweise dafür ließen sich nicht finden. Das Verfahren wurde nach wenigen Wochen eingestellt.

Schumanns kontroverse Forderungen nach Dopingfreigabe

In einem 13-seitigen Kapitel von "Lebenstempo" befasst Schumann sich mit dem Thema Doping. Er prangert darin Bigotterie im Anti-Doping-Kampf an, berichtet von eigenen Abwägungen der Risiken durch Doping und regt gar eine Freigabe von Doping im Erwachsenen-Leistungssport an – mit "offiziellen Dopingsponsoren", auf dass eine "neue Dynamik" entstehe. Schumann meint es ernst.

Mühevoll gelang Schumann die Kehrtwende. Er meldete Privatinsolvenz an, arbeitete sich aus dem Loch heraus, in das er sich hineinmanövriert hatte, fand eine neue Liebe und eine neue Aufgabe. Heute arbeitet der Thüringer als Personal Trainer in Erfurt. Wettkämpfe bestreitet er nur noch selten.

Das Laufen aber, das liebt Nils Schumann noch immer. Tief durchatmen, auspowern, die innere Mitte finden. Er sagt: "Gedanklich ist man irgendwann schnell an dem Punkt, an dem man es einfach laufen lässt."


Tags:


Newsticker