„So ein Pech!“ – Politiloge bringt weltweiten Ärger über russischen Corona-Impfstoff auf den Punkt

  18 Auqust 2020    Gelesen: 706
„So ein Pech!“ – Politiloge bringt weltweiten Ärger über russischen Corona-Impfstoff auf den Punkt

Der erste russische Corona-Impfstoff ist kürzlich registriert worden. Dass viele Kritiker jetzt nicht nur den Impfstoff, sondern auch die Entwickler des Gamaleya-Zentrums verbal angreifen, da platzt einem wie dem Politologen und PR-Experten Gleb Kuznetsov der Kragen. In einem Gastbeitrag spricht er den weltweiten Impfstoff-Wettlauf an.

Erstens,  2020 und 2021 werden alle Impfstoffe mit Verstößen gegen das übliche Verfahren registriert werden. Die meisten Unternehmen, deren Mittel sich noch nicht einmal in der dritten, sondern in der zweiten Testphase befinden, bereiten Kapazitäten für eine schnellere Produktion vor.

In einer „normalen Situation“ wäre dies absurd – was, wenn das Mittel scheitert? Doch wir sind nicht in einer normalen Situation. Deswegen werden alle Mittel, die theoretisch registriert werden können, in der Tat registriert. Auch wenn in der Anweisung mit Großbuchstaben geschrieben würde, man müsse bei der Impfung eine Spritze mit Adrenalin dabei haben, und die Liste der Gegenanzeigen so groß wie eine britische Enzyklopädie wäre.

Sonst wären die Impfstoffe unter normalen Umständen, also unter strikter Einhaltung aller Verfahren, bestenfalls gegen Ende der 2020er Jahre fertig. Zwischen der Erteilung des Auftrags für Impfstoff/Medikament gegen Ebola und ihrer Produktion vergingen mindestens sechs Jahre. Es gilt als üblich, wenn das Mittel zehn Jahre nach der Erfindung auf den Markt kommt.

Als Erstes konnte das Gamaleya-Zentrum (der Entwickler des Impfstoffes Sputnik V, das Nationale Gamaleya-Zentrum für Epidemiologie und Mikrobiologie, benannt nach dem bekannten sowjetischen Mikrobiologen Nikolaj Gamaleja - Anm. d. Red.) die Registrierungsdokumente dank einer speziellen Regelung in Russland bekommen. In diesem Sinne ist die Empörung der Fans von Biotech-Startups klar. Es war quasi unfair gegenüber anderen Teilnehmern des Wettlaufes. Tatsache ist jedoch, dass dieser „Sieg“ abgesehen von seiner symbolischen Bedeutung keinen Wert hat. Die Registrierung in anderen Jurisdiktionen erfolgt nach ihren Regeln, der Gamaleya-Impfstoff wird den anderen nicht den Markt wegnehmen, solange er den Regeln der nichtrussischen Jurisdiktionen nicht entspricht.

Zweitens, die Welt bereitet sich auf die Präsentation von 150 Impfstoffen vor. Die meisten davon (und alle, die bereits die klinischen Studien durchlaufen) haben nichts gemeinsam mit Innovationen, sondern basieren auf verständlichen und relativ geprüften technologischen Plattformen. Die Projekte werden von a) börsennotierten Unternehmen b) privaten nicht börsennotierten Unternehmen c) staatlichen Instituten (darunter von jenen mit Verbindung zur Landesverteidigung) durchgeführt. Am aktivsten im öffentlichen Bereich sind börsennotierte Unternehmen. Am wenigsten aktiv sind staatliche Institute. Nicht börsennotierte Unternehmen zeigen eine sporadische Aktivität, weil sie Zugang zu Finanzmitteln brauchen. „Selbst die Chinesen bringen etwas heraus!“, schreit man. Doch es geht darum, dass die vier bzw. fünf chinesische Unternehmen, die „etwas herausgeben“ und von denen man etwas hört, börsennotiert sind. Natürlich agiert die börsennotierte Firma CanSino Biologics nach der Logik der Börse. Und nach welcher Logik die verschlossenen Institute der Nationalen Befreiungsarmee Chinas vorgehen und an wie vielen Soldaten getestet wird – das werden wir wohl nie erfahren. Die öffentliche Aktivität des Gamaleya-Zentrums mit der von US-Pharmariesen Moderna Inc. zu vergleichen – das ist töricht.

Doch wenn man Vergleiche anstellt, sollte man alles vergleichen. Es gibt keine Hinweise, dass Gamaleya-Mitarbeiter im Insiderhandel verstrickt sind. Sie stehen nicht vor Gericht wegen gestohlener Patente und wirken als anständigere Menschen und verantwortungsvollere Wissenschaftler als das Management von Moderna bzw. von Inovio Pharmaceuticals. Warum der Gamaleya-Impfstoff auf so viel Aggression stößt, ist klar. Dank seines „nichtkommerziellen“ Status hat er mehr Vorteile bei der Entwicklung und Registrierung als die Mittel der börsennotierten Teilnehmer des Wettlaufs. Die symbolische „Prä-Registrierung“ beeinflusst die finanzielle Seite dieser Teilnehmer – die Aktienwerte dieser Impfstoff-Startups stürzten ab. Der Titel des „Impfstoff-Champions“ hätte wohl für steigende Aktienwerte gesorgt, doch ein unscheinbarer russischer Spieler versucht, ihnen diesen Titel wegzunehmen. So ein Pech!

Drittens, es gibt keine absolut sicheren Medikamente. Impfstoffe dringen in einen der sensibelsten Mechanismen des menschlichen Körpers ein: in die Immunität. Dieses Eingreifen ist heftig – wie ein Hammerschlag. Die Todesrate bei den allerersten Impfungen war übrigens höher als heute bei Covid-19. Die Pocken-Impfungen forderten Menschenleben von mehr als drei Prozent der Infizierten. Die Impfung ist also ein Verhältnis von unvermeidlichen Risiken und offensichtlichen Vorteilen. Dabei gibt es keine „sicheren“ Impfstoffe, wie es keine Medikamente ohne Nebenwirkungen gibt. Die Impfung von Milliarden Menschen gegen das neuartige Coronavirus wird Dutzende Millionen Nebenwirkungen verschiedener Stärke bzw. direkt oder indirekt wohl sogar zu Dutzendtausenden Tode führen. Womit werden diese Tode verbunden sein? Ob mit Genetik, Vorerkrankungen, mangelnder Erforschung der Immunreaktion und Entzündung, fehlendem Zugang zur medizinischen Hilfe, technologischen Fehlern bei der Produktion von riesigen Mengen? Es kann keine sicheren Impfstoffe der ersten Generation gegen eine neue Infektion geben. Die Menschheit ist dazu verurteilt, dass ein wahrer „klinischer Test“ eine Massenimpfung sein wird. Man kann sich wohl damit trösten, dass die dritte Generation der Impfstoffe sicherer sein und die Sterbewahrscheinlichkeit – wie gewöhnlich – in ärmeren sozialen Gruppen der Dritten Welt höher als bei „reichen weißen“ Einwohnern in Großstädten der Industrieländer sein wird.

Viertens, der Gamaleya-Impfstoff hat einen weiteren Vorteil, der zu einem Problem wurde – die Kooperation mit dem Militär bei der Herstellung. Es ist kein Geheimnis, dass der Impfstoff auf Basis des Impfstoffs gegen Ebola, der bei vielen klinischen Tests in Afrika erprobt worden war, entwickelt wurde. Ebola ist eine Krankheit, die Russland nicht bedroht. Sie ist nur von Interesse für PR-Spezialisten unserer „Soft Power“ (der mit den Schulterklappen) und Spezialisten der Truppen des Strahlungs-, Chemie- und Biologie-Schutzes. Also, es ist sehr merkwürdig, von einem Erzeugnis, das in Kooperation mit militärischem Biotech entstand, Publikationen in rezensierten Zeitschriften zu fordern - auch wegen des militärischen Geheimnisses. Natürlich müssen viele Patente, Dokumente und Forschungsergebnisse für die Durchsetzung des Impfstoffs in der Welt offengelegt werden. Dazu wird es wohl auch kommen, weil der Drang, sich an der Rettung der Menschheit zu beteiligen, offenbar vorhanden ist.

Also, gibt es eine Garantie, dass das Gamaleya-Zentrum etwas Phänomenales, Rettendes und absolut Sicheres auf den Weg brachte? Natürlich nicht. Doch es hat einen Impfstoff, der auf einer Plattform basiert, die nach Jahren der Arbeit an dem Ebola-Impfstoff alle notwendigen Sicherheitsstudien hinter sich hat. Das ist ein Fakt. Ob ich mich selbst impfen lassen werde? Selbstverständlich. Denn ich kann es mir nicht leisten, fünf Jahre aus dem Leben zu streichen und zu warten, bis die dritte Generation der Impfstoffe entsteht, die das Risiko der Nebenwirkungen um das Zweifache senkt. Es ist ein Risiko. Und es ist mein Recht.

Die Vorwürfe gegen den Impfstoff sind häufig unbegründet. Zum Teil, weil dem Gamaleya-Zentrum das vorgeworfen wird, was eigentlich alle tun (Start der Produktion bis zur Registrierung des Mittels, Umgehung der „normalen Verfahren“), aber auch weil dem Zentrum Verstöße gegen einige  Normen vorgehalten werden, die das Institut nicht unbedingt erfüllen soll.

sputniknews


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