Vor einem Jahr hat es den bekanntesten Oppositionellen Russlands Alexej Nawalny bereits einmal erwischt. Aus einer Moskauer Haftanstalt, wo Nawalny eine administrative Verhaftung verbüßte, musste er im Juli 2019 ins Krankenhaus gebracht werden. Obwohl die mehrmals korrigierte, offizielle Diagnose durchaus harmlos klang, ging seine persönliche Ärztin fest von einer Vergiftung aus. Doch nun scheint es für den 44-Jährigen tatsächlich ernst zu sein. Nawalny war auf einem Flug zwischen Sibirien und Moskau unterwegs, als er sich plötzlich schlecht fühlte und das Bewusstsein verlor. Das Flugzeug landete im sibirischen Omsk, der Oppositionelle selbst liegt nun dort auf der Intensivstation, befindet sich im Koma und muss künstlich beatmet werden.
Das russische Gesundheitsministerium kann sich bisher nicht festlegen, was der Grund für Nawalnys Zustand ist. Inoffiziell wird aber bereits über eine Vergiftung mit Natriumoxybutyrat spekuliert, einem etwa in der Neurologie oder Anästhesiologie eingesetzten Medikament, das auch als Droge benutzt wird. Und so ist in den russischen Staatsmedien bereits von einer angeblichen Sucht des Politikers zu lesen.
Nawalnys Team hingegen geht davon aus, dass er womöglich am Flughafen der sibirischen Stadt Tomsk vergiftet worden ist, wo er in einem Kaffeehaus einen Tee getrunken hatte. Sonst habe Nawalny seiner Sprecherin zufolge weder gegessen noch getrunken. Über den Chef der Betreibergesellschaft des Flughafens von Tomsk, heißt es, gebe es Verbindungen zu Igor Setschin, ein Ex-Berater der staatlichen Ölgesellschaft Rosneft sowie Freund von Präsident Wladimir Putin.
Opposition mit der Systemopposition
In Russland finden am 13. September in mehreren Regionen des Landes Lokalwahlen statt. Nach Angaben des sibirischen Nachrichtenportals tayga.info war Nawalny seit dem 14. August in Sibirien unterwegs, um mit Oppositionellen zu sprechen. Er war demnach in Nowosibirsk, um Mitarbeiter seines Regionalbüros zu treffen. In der sibirischen Metropole bereitete sein Team offenbar eine Koalition unabhängiger Kandidaten vor. Außerdem soll der Politiker eine Recherche über die Stadtratsabgeordneten von Putins Regierungspartei Einiges Russland vorbereitet haben. Auch in Tomsk soll er Oppositionskandidaten für die Stadtratswahl getroffen haben.
Was Nawalny vorhatte, hätte dem Kreml im Hinblick auf die Wahlen tatsächlich gefährlich werden können. Der 44-Jährige plante eine Strategie namens "Kluge Abstimmung", bei der regierungskritische Bürger gezielt gegen Einiges Russland abstimmen sollen. Das heißt im Zweifelsfall, dass sie sogar der sogenannten Systemopposition die Stimme geben würden, also jenen Parteien, die im russischen Parlament sitzen und deren Führung mit dem Kreml zusammenarbeitet. In den Regionen haben die Politiker jedoch weniger Druck als sie in Moskau durch Einiges Russland bekommen und sind durchaus in der Lage, eine unabhängige Politik zu führen. Deswegen, so Nawalny, sei es immer besser, für sie abzustimmen und nicht für die Putin-Partei.
Ein Beispiel für die möglichen Auswirkungen dieses Szenarios sind die Proteste, die kürzlich in Chabarowsk an der Grenze zu China stattfanden. Der örtliche Gouverneur Sergej Furgal ist eigentlich ein Politiker der rechten LDPR-Partei und damit der Systemopposition. Dennoch hat er im fernen Osten seine eigene Politik durchgesetzt und wurde wohl nicht zuletzt genau deswegen verhaftet. Nawalny durfte wegen einer gerichtlichen Verfügung seit Mitte Juli seine Heimatstadt Moskau nicht verlassen. "Das ist definitiv dafür gedacht, damit ich nicht in die Regionen fahre, um die 'Kluge Abstimmung' zu unterstützen", sagte er damals.
Die Zahl der Vergiftungen häuft sich
Nawalny ist seit rund zehn Jahren der wichtigste Gegner von Putin. In den Nullerjahren wurde er noch wegen seiner rechten Ansichten aus einer Oppositionspartei ausgeschlossen, seitdem wurde seine Politik etwa mit Blick auf Arbeitsmigration aus Zentralasien deutlich flexibler. 2011 nahm er prominent an den Protesten gegen vermeintliche Wahlfälschungen bei der Parlamentswahl teil und hat außerdem seine Stiftung für Korruptionsbekämpfung gegründet, die seitdem über die Machenschaften der russischen Elite berichtet - auch über die Familie Putin.
2013 wurde er überraschend zur Moskauer Bürgermeisterwahl zugelassen und bekam dort 27 Prozent, eines der besten Wahlergebnisse in der Geschichte der russischen Opposition. An der Präsidentschaftswahl 2018 durfte Nawalny allerdings wegen seiner Verurteilung in einem Prozess wegen Veruntreuung beim staatlichen Holzbetrieb Kirowles nicht teilnehmen. Das Verfahren wurde allerdings vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als "willkürlich" eingeschätzt.
Nawalny wird deswegen von Putin als gefährlich eingeschätzt, weil kein anderer Oppositionelle aus Russland ohne Zugang zu den staatlichen Medien so viele Menschen um sich vereinen konnte. Rund sechs Millionen Menschen folgen den beiden Nawalny-Kanälen auf Youtube, hinzu kommen mehr als zwei Millionen Follower auf Twitter. Seine mutmaßliche Vergiftung könnte sich zur Fortsetzung einer traurigen Tendenz entwickeln. Mit dem Kreml-kritischen Schriftsteller Dmitrij Bykow, dem Koordinator der Oppositionsorganisation Open Russia, Wladimir Kara-Murza, sowie dem Leiter des Projekts Mediaziona, Pjotr Wersilow, das sich mit der Willkür des Sicherheits- und Justizsystems Russlands befasst, gab es in den letzten fünf Jahren bereits mehrere ähnliche Fälle.
Quelle: ntv.de
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