"Wie Milch auf dem Herd köcheln lassen"

  23 Auqust 2020    Gelesen: 707
  "Wie Milch auf dem Herd köcheln lassen"

Die Coronavirus-Pandemie ist ein Phänomen, welches noch viele Rätsel aufgibt. Und bisher gelingt es nicht, des Erregers Herr zu werden. Mit dem Virologen Jonas Schmidt-Chanasit spricht ntv.de über die befürchtete "zweite Welle", den Umgang mit der Corona-Pandemie und die Suche nach einem Impfstoff.

ntv.de: Herr Schmidt-Chanasit, seit Beginn des Jahres weiß die Welt von der Existenz des Coronavirus Sars-CoV-2. Doch wirklich viel wusste man anfangs nicht über den Erreger. Etwa, was die Übertragung angeht. Was ist mittlerweile darüber bekannt? Auf welche Weise stecken sich Menschen am häufigsten an?

Jonas Schmidt-Chanasit: Wir wissen mittlerweile ziemlich genau, dass sich das Coronavirus über größere und kleinste Tröpfchen, sogenannte Aerosole, verbreitet. Diese Tröpfchen geben wir beim Atmen und Sprechen, besonders aber beim Singen, Schreien, Husten und Niesen ab. Andere Menschen können diese Tröpfchen dann einatmen und sich infizieren. Schmierinfektionen scheinen keine so große Rolle zu spielen.

Eine neue Studie aus den USA hat in einem geschlossenen Raum infektiöse Aerosole in mehreren Metern Entfernung von Covid-19-Patienten nachgewiesen - reicht es also nicht mehr aus, in Innenräumen Abstand voneinander zu halten? Sollte man dort lieber immer eine Maske tragen, etwa in Großraumbüros?

Eine einzelne Maßnahme reicht sowieso nicht aus. Die AHA-Regeln beispielsweise - Abstand, Hygiene, Alltagsmasken - wirken zusammen: Dabei geht es darum, grundsätzlich Abstand zu anderen zu halten und dort, wo das nicht möglich ist, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Und auch in geschlossenen Räumen kommt es auf das Gesamtkonzept an: Wie viele Menschen halten sich wie lange gemeinsam in einem Raum auf? Singen oder lesen sie da, wie gut lässt sich dieser Raum lüften? Und entscheidend ist letztendlich die Virenmenge und nicht nur der Nachweis des Virus, wie in der genannten Studie. Sie sehen, man muss sich immer sehr genau die Situation vor Ort ansehen und dann entscheiden.

Das Tragen von Masken in öffentlichen Räumen - wie Schulen, Supermärkten und im Nahverkehr - gilt als wirkungsvoller Schutz. Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell hat jedoch Zweifel geäußert, ob Masken tatsächlich viel bringen. Kann man dennoch verlässlich sagen, dass die Maskenpflicht eine wichtige Säule im Kampf gegen die Pandemie ist? Oder ist es nach wie vor eher eine Annahme?

Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz, weder in einer Pandemie noch sonst im Leben. Aber der richtig verwendete Mund-Nasen-Schutz kann dazu beitragen, das Übertragungsrisiko zu senken. Wir müssen uns nur klarmachen: Alltagsmasken reduzieren Tröpfcheninfektionen, nicht aber Infektionen durch Aerosole. Deshalb ist in geschlossenen Räumen das Lüften so wichtig. Es macht offenbar einen Unterschied, wie hoch die Virenmenge ist, mit der wir konfrontiert werden. Davon hängt möglicherweise ab, ob und wie schwer wir erkranken.

In den deutschen Bundesländern enden derzeit nach und nach die Sommerferien. Wo die Schulen bereits geöffnet sind, gibt es auch schon erste Corona-Fälle. Was weiß man mittlerweile über die Rolle von Schulen in der Pandemie - könnte es dort neue Superspreading-Events geben? Oder ist das Risiko gering?

Um das abschließend zu beurteilen, konnten bisher nur wenige Studien gemacht werden, denn die Schulen waren ja in den meisten Ländern geschlossen, oder das Infektionsgeschehen war gering. Schulen und Kitas waren bisher aber nicht Treiber der Pandemie.

Die Frage der Schulöffnung hängt ja auch stark mit der Rolle von Kindern in der Corona-Pandemie zusammen. Was kann man mittlerweile dazu sagen?

Kinder haben meist sehr milde oder asymptomatische Verläufe. Die Ursachen dafür müssen noch erforscht werden. Das Einzige, was man bisher darüber wirklich sagen kann, ist, dass Kinder unter 10 Jahren nicht Treiber der Pandemie sind.

Im Gegensatz zu Schulen bleiben Clubs geschlossen, Prostitution in den meisten Bundesländern verboten und Großveranstaltungen untersagt. Kann und sollte man nicht Wege finden, trotz Corona auch auf diesen Gebieten wieder zu einer gewissen Normalität zurückzukehren?

Das geschieht bereits. Kinos und Theater sind ja zum Teil wieder geöffnet - mit reduzierter Besucherzahl und personalisierten Eintrittskarten. In Hamburg arbeiten die Clubs an einem Hygienekonzept. Und in Norddeutschland ist ab September - vorbehaltlich des weiteren Infektionsgeschehens - angemeldete Prostitution wieder gestattet. Denn hier haben sich soloselbstständige Prostituierte zusammengetan und ein bestechendes Hygienekonzept erarbeitet. Und das ist gut so. Denn bei illegalen Partys und illegaler Prostitution können die Gesundheitsämter schwerlich Infektionsketten nachvollziehen und unterbrechen.

Die Hoffnungen vieler Menschen ruhen auf der Entwicklung eines Impfstoffs - die Meldungen über Fortschritte sind zahlreich. Wann, glauben Sie, könnte ein verlässlicher Impfstoff auch in Deutschland zur Verfügung stehen?

Es wird nicht den einen Impfstoff geben und dann ist alles wieder gut. Von dieser Vorstellung sollten wir uns verabschieden. Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben. Es wird aber vermutlich mehrere Impfstoffe geben, für verschiedene Patientengruppen, die wahrscheinlich unterschiedlich gut wirken und unterschiedlich lange anhalten. Sie werden uns das Zusammenleben mit dem Virus sicher erheblich erleichtern. Derzeit sind mehr als 150 Impfstoffkandidaten weltweit im Rennen. Unter anderem testet meine Kollegin Marylyn Addo aktuell am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin einen Impfstoff. Sie ist sehr zuversichtlich, dass er in einigen Monaten zugelassen werden könnte.

Russland hat ja bereits einen Impfstoff zugelassen und dabei eine wichtige Phase bei den klinischen Studien ausgelassen, was jedoch auf viel Kritik stieß. Geht das Land ein unkalkulierbares Risiko ein? Was könnte das für Folgen haben?

Ich sehe die Zulassung sehr, sehr zurückhaltend. Es gibt bislang keine publizierten Daten zu dem Impfstoff - das ist schon mal eine ganz große Schwierigkeit. Bislang hat noch kein Wissenschaftler den Impfstoff unabhängig beurteilen können. Das ist aber wichtig, damit auch andere Experten sich unabhängig voneinander ein Bild von den Daten machen können. Gerade wenn Impfstoffe aus nicht ganz so freien Systemen kommen, ist eine unabhängige Begutachtung besonders wichtig. Sonst kann da jede Firma irgendwas erzählen.

Die Standards der WHO für Studien und Testungen müssten unbedingt eingehalten werden. Sonst könnte es negative Effekte geben. Beispielsweise gibt es einen Impfstoff gegen das Dengue-Virus, der schwere Nebenwirkungen hervorgerufen hat. Dadurch ist es auf den Philippinen zu einer Impfmüdigkeit gekommen. Die Bevölkerung hatte dort zu Recht kein Vertrauen mehr in den Impfstoff und sich wie Versuchskaninchen gefühlt. Das hat dann auch dramatische Folgen für andere Impfstoffe gehabt, etwa gingen insgesamt auch die Impfungen gegen Polio oder Masern zurück. Es ist ganz wichtig, dass man auf jeden Fall einen sicheren Impfstoff einsetzt und auch weiß, wo möglicherweise Nebenwirkungen liegen.

Auch die Suche nach Medikamenten läuft emsig - bisher gibt es verschiedene Erfolgsmeldungen, etwa zu Remdesivir oder Dexamethason. Sehen Sie auf dem Gebiet Fortschritte, die tatsächlich Hoffnung auf eine Behandlung machen, die Leben retten könnte?

Ja. Weitere bereits zugelassene Medikamente könnten in der Zukunft relativ schnell zur Behandlung eingesetzt werden.

Die Zahl der durchschnittlichen Neuninfektionen in Deutschland nimmt zuletzt wieder zu - ist das schon der Beginn einer "zweiten Welle"?

Dieser Begriff schürt zugleich Ängste und Ablehnung und bringt uns nicht weiter. Ich ziehe ein anderes Bild vor. Eine Kollegin von mir hat das mit dem schwierigen Versuch verglichen, Milch auf dem Herd vor sich hin köcheln zu lassen. Wenn Sie nicht aufpassen, kocht die Milch über und macht eine Riesensauerei. Deshalb müssen Sie permanent danebenstehen und die Temperatur regeln. So ist es auch mit den Lockerungen. Wir kommen weder durch die Pandemie, indem wir den Herd ausstellen, also alles dichtmachen, noch, indem wir die Platte auf neun stellen, also so leben wie letztes Jahr noch. Wir müssen Konzepte finden, sicher zu reisen, zu feiern, zu arbeiten, zu lernen, zu handeln. Gleichzeitig stimmt mich schon mit Sorge, dass das Infektionsgeschehen dem Robert-Koch-Institut zufolge stärker in die Breite gegangen ist. In die Breite aller Bevölkerungsgruppen und in die geografische Breite.

Halten Sie es für möglich, dass trotz aller geltender Maßnahmen es noch einmal zu einem so starken Anstieg der Neuinfektionen in Deutschland kommen könnte wie im März und April dieses Jahres?

Ich bin kein Hellseher. Ich kann nur immer wieder dazu aufrufen, die AHA-Regeln einzuhalten: Abstand zu halten, Hände zu waschen, Alltagsmasken zu tragen, wo kein Abstand möglich ist. Vielleicht haben uns die Lockerungen ein bisschen leichtsinnig gemacht. Dass etwa Familienfeiern, Reisen und Veranstaltungen mit vielen Menschen unter bestimmten Bedingungen erlaubt sind, heißt nicht, dass wir dabei keinen Abstand einhalten müssen.

Das Interview mit Jonas Schmidt-Chanasit führte Kai Stoppel

Quelle: ntv.de


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