Die kommenden Monate werden hart, weil das Leben in der kalten Jahreszeit wieder hauptsächlich in Innenräumen stattfindet, wo die Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus wesentlich größer ist als im Freien. Was zu tun ist, um bis zum Frühling ohne Lockdown durchzukommen, haben in Abwesenheit von Christian Drosten vier hochrangige Wissenschaftler in einer Sonderausgabe seines NDR-Podcasts besprochen: Sandra Ciesek, Chefin des Instituts für Medizinische Virologie der Frankfurter Goethe-Universität, Ania Muntau, Leiterin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des UKE, Martin Kriegel, Leiter des Hermann-Rietschel-Instituts an der TU Berlin und RKI-Chef Lothar Wieler.
Wieler fasst zusammen, worauf es in den kommenden Monaten grundsätzlich ankommt: "Der Umgang von Menschen mit diesem Virus wird ganz entscheidend den weiteren Fortgang der Pandemie bestimmen", sagt er. Wenn man es schaffe, ein Virus, das hauptsächlich über die Atemwege übertragen werde, gut zu kontrollieren, könne man deutlich leichter mit ihm und der Krankheit umgehen. Welche Probleme dabei in Innenräumen überwunden werden müssen, diskutierten die Wissenschaftler anhand der Schulen, die bereits wieder geöffnet haben oder demnächst öffnen werden.
Aerosole sind das größte Problem
Martin Kriegel ist einer der deutschen Experten für Aerosole, der unter anderem eine Studie über die Ausbreitung von Sars-CoV-2 in der Raumluft leitete. Er hat herausgefunden, dass Menschen beim Atmen, Sprechen, Singen oder auch trockenen Husten fast ausschließlich diese mikroskopisch kleinen Flüssigkeitspartikel ausstoßen. Größere Tröpfchen flögen dagegen selten, beispielsweise beim Niesen oder einer feuchten Aussprache. Aerosole schwebten in der Luft und verteilten sich selbst bei minimalen Luftbewegungen im gesamten Raum, erklärt er. Selbst bei normaler Atmung stoße ein Mensch pro Sekunde rund 50 Aerosole aus.
Dass Aerosole infektiöse Viren enthalten können, wurde kürzlich nachgewiesen. Um die Gefahr durch Aerosole genau zu bestimmen, müsste man aber wissen, welche Viruslast ein Mikropartikel tragen kann und wie viele Viruspartikel man braucht, um sich zu infizieren. Dass Aerosole infektiöse Viren enthalten können, wurde kürzlich nachgewiesen. "Da fehlen uns aber einfach noch die Daten", sagt Sandra Ciesek.
Lüften ist nicht einfach
Wüsste er genau, wie viele Viren ein Aerosol tragen könne und wie viele Viren es für eine Ansteckung brauche, hätte er eine sehr gute Basis dafür, um die Luftmenge zu bestimmen, die entlüftet werden muss, um das Ansteckungsrisiko deutlich zu minimieren, sagt Kriegel. So versuche er, die benötigte Frischluftmenge aus vorangegangenen Ausbrüchen ungefähr zu bestimmen, was aber "sehr, sehr vage" sei.
Einmal in der Stunde in einem Klassenraum mit 20 Kindern für zehn Minuten zu lüften, reiche bei weitem nicht aus, sagt er. Ein Indikator, den man heranziehen könne, sei der CO2-Gehalt. Demnach seien im Unterricht bereits nach 15 Minuten "sämtliche Luftqualitäts-Grenzwerte" gefallen.
Ania Muntau würde in diesem Zusammenhang gerne wissen, warum es in diesem Land nicht möglich ist, Schulen mit geeigneten Lüftungsanlagen zu versehen. Denn der Alltag mit Lüften werde "einfach nicht funktionieren". Kriegel sieht darin aber ein rein praktisches Problem, man könne Tausende Schulen einfach nicht so schnell mit Lüftungsanlagen nachrüsten. Deswegen müsse man mit der Fenster-Lüftung leben, sagt er, "mit den Einschränkungen, die das eben mit sich bringt".
Der Experte ist verärgert, dass diese Diskussion überhaupt noch geführt werden muss. Man wisse schon seit 130 Jahren, dass Klassenräume schlecht gelüftet sind. Und alle 10, 15 Jahre komme eine neue Studie heraus, die dies bestätige. "Aber wenn es dann zu Neubauten von Schulen kommt, baut man sie wieder ohne Lüftungsanlagen. Und das ist völlig unverständlich."
Feste Gruppen statt normaler Regelunterricht
Lothar Wieler stimmt ihm voll und ganz zu: Man könne nur hoffen "und alles, was in unserer Macht steht, tun, damit diese Nachrüstung stattfindet". Jetzt sei sicher die Gelegenheit, dafür auch entsprechende Mittel zu bekommen, sagt er. Aus epidemiologischer Sicht sei jetzt aber entscheidend, bestimmte feste Gruppen zusammenzufassen. "Ich plädiere dafür, dass man in der Schule nicht einen normalen Regelunterricht stattfinden lässt, sondern feste Gruppen mit festen Lehrern bildet." Bei einem Infektionsfall sei dann die Zahl der Schulkinder und Lehrer geringer, die in Quarantäne gehen müssten.
Ania Muntau ist ebenfalls für feste Gruppen an Schulen. Für sie stellt sich aber auch die Frage, wie gestestet werden soll. Sie höre immer, man solle nach Symptomen testen, sagt sie. Bei Kindern - besonders bei jüngeren - greife diese Strategie aber nicht, weil es neben symptomatisch erkrankten sehr viele asymptomatisch erkrankte Kinder und solche mit sehr milden Symptomen gäbe. "Und dann können wir nicht darauf warten, dass der heftig hustet."
Wie soll man testen?
Muntau wünscht sich daher regelmäßige Testungen der Gruppen und deren Betreuer alle ein, zwei Wochen. Eine weitere Möglichkeit sieht sie im sogenannten Pooling, bei dem mehrere Tests zusammen ausgewertet werden. Fällt das Ergebnis negativ aus, ist niemand infiziert, bei einem positiven Test geht die gesamte Gruppe ohne weitere Verzögerung in Quarantäne oder man testet nochmal jedes einzelne Mitglied.
Wieler hält Pooling für sinnvoll, solche Überlegungen seien definitiv richtig, sagt er. "Die werden aber nur dann greifen, wenn die Schulen auch die Konzepte durchdacht haben und auch zum Beispiel mit lokalen Gesundheitsämtern oder mit den Kassenärztlichen Vereinigungen solche Konzepte ausgearbeitet haben, so dass sie dann auch logistisch durchgeführt werden können." Schulen müssten sich da untereinander austauschen, national, aber auch international. "Es gibt sicher kein Patentrezept, und wir müssen immer die Augen offen haben für neue Lösungen, die auch aus anderen Ländern kommen können."
Antigen-Tests bringen "Bewegungsfreiheit"
Sandra Ciesek hält Pool-Testungen an Schulen allerdings in der Praxis nicht für durchführbar, dies sei logistisch ihrer Meinung nach nicht zu schaffen. Sie plädiert dagegen, bei Schulen Antigen-Tests einzusetzen. Dabei handelt es sich um Schnelltests, bei denen nicht Erbgut (RNA) wie beim üblichen PCR-Test nachgewiesen wird, sondern die Proteinhülle des Virus. Die einfachsten sind sogenannte Diffusions-Tests, die ähnlich wie Schwangerschaftstests funktionieren.
Solche Tests könne man jeden Tag vor der Schule zu Hause machen, sagt Ciesek. Fällt er negativ aus, könne ein Kind zur Schule gehen, bei einem positiven Ergebnis müsse es zu Hause bleiben. Die Antigen-Tests seien zwar nicht so genau wie PCR-Tests, aber das müsse kein Nachteil sein, erklärt die Virologin. Denn bei PCRs würden auch noch Menschen positiv getestet, die nur noch eine ganz geringe Viruslast hätten und gar nicht mehr infektiös seien. Aber man wolle ja gerade die Personen herausfiltern, die das Potenzial haben, viele andere anzustecken, sagt sie.
Ciesek führt aktuell eine Studie mit Lehrern in Frankfurt durch, aber noch gibt es in Deutschland keine zugelassenen Antigen-Tests. In anderen Ländern sei dies aber schon der Fall, sagt sie, und es gäbe auch deutsche Anbieter. Der Test, den sie in ihrer Studie einsetze, sei auch noch nicht zugelassen, aber sie sei zuversichtlich, dass es bis dahin nur noch einige Wochen dauern werde. RKI-Chef Wieler kennt selbst noch keinen Antigen-Test, "dessen Qualitätskriterien hoch genug sind", aber natürlich warte man darauf. "Das bringt uns eine große Bewegungsfreiheit, da stimme ich vollkommen zu."
Masken noch unverzichtbar - auch im Klassenzimmer
Bei allem Fortschritt werden in den kommenden Monaten aber auch die ungeliebten Masken weiter unvermeidbar sein. Denn wie Martin Kriegel nochmal erklärt, schützen sie nicht nur andere Personen vor fliegenden Tröpfchen, sondern bremsen auch die Ausbreitung von Aerosolen aus. Im Herbst und Winter müssten die Menschen auf jeden Fall weiter Masken tragen, sagt Ciesek, auch wenn sie keinen hundertprozentigen Schutz böten. Es gehe auch darum, die Belastung oder Anzahl der Viren zu reduzieren. Es gäbe Daten, wonach ein Verlauf umso schwerer sei, je höher die Anzahl der Viren ist, mit denen man infiziert wird, so die Virologin.
Also sollen auch Schüler in Klassenräumen Masken tragen? Ania Muntau ist bei dieser Frage hin- und hergerissen. Gerade für Kinder unter fünf Jahren sei dies wirklich einschneidend. "Und ich glaube, dass das auch für die pädagogischen Konzepte in den Schulen ein schwerer Rückschlag ist. Andererseits gilt all das, was Herr Kriegel und Frau Ciesek gesagt haben." Insofern sei sie eher für als gegen Masken, "wohl wissend, was das bedeutet".
"Wir haben jetzt das Wissen, dass Masken tatsächlich eine hohe Wirksamkeit haben", sagt Martin Wieler. Er sehe auch kein großes Problem bei kleinen Kindern, die das manchmal auch gar nicht so übel fänden, wenn sie eine schicke Maske trügen. Er habe darüber auch mit Psychologen gesprochen, die teilweise andere Ansichten verträten. Aber dies sei letztlich eine Güterabwägung. 60 Prozent der Eltern seien schon für Masken im Unterricht. Jetzt komme es darauf an, weiter gut zu kommunizieren.
Quelle: ntv.de, kwe
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