ntv.de: Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass der russische Präsident Putin den Anschlag auf Alexej Nawalny angeordnet hat?
Stefan Meister ist Experte für russische Außen- und Sicherheitspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Stefan Meister: Das wissen wir natürlich nicht, wir können nur spekulieren. Aber Zugang zu dem Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe, das bei dem Anschlag verwendet wurde, haben nur bestimmte staatliche Institutionen in Russland. Auf jeden Fall muss der russische Geheimdienst in irgendeiner Form involviert gewesen sein.
Muss die Anweisung von Putin gekommen sein?
Auf jeden Fall müssen hochrangige Leute davon wissen, wenn dieses Nervengift gegen eine so wichtige Person angewandt werden soll. Ob Putin selbst davon wusste, das kann ich nicht sagen. Aber das System Putin wusste davon.
Es ist nicht das erste Mal, dass Nowitschok bei einem Anschlag gegen einen Russen zum Einsatz gekommen ist. Ist das nicht eine sehr offensichtliche Spur in den russischen Sicherheitsapparat?
Das ist ein Nervengift, für dessen Produktion und Anwendung Sie ganz bestimmte Fähigkeiten haben müssen. Sie müssen mit bestimmten Laboren arbeiten und bestimmte Zugänge haben. Deshalb ist eine Beteiligung des russischen Geheimdienstes so gut wie sicher. Wenn Nowitschok bei einem Anschlag nachgewiesen werden kann, ist das eine klare Ansage. Dann weiß man, wer dahintersteckt.
Dann ist so ein Anschlag eher eine Botschaft an die Öffentlichkeit als an das Opfer selbst?
Ich sehe zwei Ebenen: In diesem Jahr stehen Regionalwahlen an, im kommenden Jahr Parlamentswahlen - es dürfte bei dem Anschlag durchaus darum gegangen sein, die wichtigste und sichtbarste Figur der Opposition auszuschalten. Aber sicher sollte auch Nawalnys Umfeld abgeschreckt und ganz generell Angst verbreitet werden. Das ist eine Botschaft über die Person Nawalny hinaus: an die Opposition und in die ganze Gesellschaft hinein, sich nicht gegen die Machteliten zu stellen.
Die Liste von Kritikern der russischen Regierung, auf die Anschläge verübt worden sind beziehungsweise die ermordet wurden, ist lang: Anna Politkowskaja, Boris Nemzow, Sergej Magnitski, Sergej Skripal. Ist das in der russischen Öffentlichkeit ein Thema?
Es ist in bestimmten Kreisen der russischen Gesellschaft ein Thema - in der Zivilgesellschaft, unter Journalisten und unter Aktivisten. Aber ich glaube, der große Teil der russischen Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, dass solche Fälle passieren und nie aufgeklärt werden. Darüber wird in den russischen öffentlichen Medien auch kaum berichtet. Wer sich darüber informieren will, muss das in den sozialen Medien oder wenigen verbliebenen unabhängigen Medien tun.
Der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes wurde von der russischen Nachrichtenagentur RIA mit den Worten zitiert, man könne nicht ausschließen, dass Spezialkräfte des Westens hinter der Vergiftung Nawalnys steckten. Ist das für Normalbürger in Russland ein glaubhaftes Szenario?
Das ist Teil der russischen Desinformation und Propaganda, denen die russische Gesellschaft kontinuierlich ausgesetzt ist. Es gibt in ihr sicher Teile, die sich nur über Staatsmedien informieren und das Narrativ glauben, der Westen wolle Russland stets Böses antun. Aber die große Mehrheit der Russen glaubt niemandem mehr. Das ist der zentrale Erfolg dieser Propaganda: Man glaubt weder der eigenen Regierung noch westlichen oder russischen Medien. In dieser Weltsicht gibt es keine verifizierbaren Fakten mehr. Das schürt Unklarheit und Unsicherheit und ist für Putin ein Erfolg, weil er damit auch mit Lügen und Falschaussagen die öffentliche Meinung manipulieren kann.
Welche Möglichkeiten haben Bundesregierung und Europäische Union, Druck auf Putin auszuüben? Oder ist das Ziel, Einfluss auf Putin nehmen zu wollen, von vornherein zum Scheitern verurteilt?
Bisher hat die Bundesregierung ja nicht viel getan. Wir hatten den Mord im Tiergarten, es gab die Cyber-Attacke auf den Bundestag, es gab eine Reihe von Desinformationskampagnen gegen deutsche Politiker, Behörden und Medien. Doch bis auf Statements ist nicht viel passiert. Jetzt ist ein Punkt erreicht, an dem man Druck ausüben muss.
Wie könnte Druck aussehen?
Man könnte Sanktionen gegen einzelne Personen aus dem russischen Sicherheitsapparat verhängen, gegen Oligarchen aus dem Umfeld von Putin. Man könnte systematisch gegen russische Geldwäsche und russische Korruption vorgehen, die auch in unserem System existieren, wo Geld in deutschen und europäischen Banken gewaschen worden ist und in die Realwirtschaft und Immobilien investiert wurde. Bisher ist das nicht passiert. Die Bundesregierung hat durchaus Druckmittel, die wirken könnten, etwa die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2, deren Bau man stoppen könnte.
Könnte Deutschland es sich denn leisten, Nord Stream 2 auf Eis zu legen?
Natürlich können wir uns das leisten. Nord Stream 2 ist eine zusätzliche Pipeline zu der bereits existierenden Infrastruktur. Das russische Ziel beim Bau dieser Gasleitung ist es, die Ukraine zu umgehen. Zudem stagniert der Gasverbrauch in Deutschland, und durch die Pandemie und die Wirtschaftskrise sind die Gaspreise auf dem Weltmarkt derzeit sehr niedrig. Flüssiggas ist inzwischen eine weltweit gehandelte Ware, so dass wir immer weniger abhängig vom Pipelinegas sind. Also ja: Wir könnten auf Nord Stream 2 verzichten - anders sieht es für Russland aus.
Mit Stefan Meister sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de
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