Mit dem autonomen Fahren ist das so eine Sache. Angekündigt hatten sie fast alle Hersteller unisono, aber so richtig umsetzen konnte es bis heute keiner. Zu komplex sind die Strukturen des Verkehrs vor allem in den Städten, als dass sie Algorithmen momentan erfassen könnten. Dafür will Mercedes jetzt auf anderer Ebene beweisen, dass es auch autonom geht.
In der sogenannten Factory 56 wird nämlich die neue S-Klasse gebaut und das an vielen Stellen autonom. Über weite Etappen ihrer Produktion schwebt die neue Luxuslimousine auf führerlosen Transportschlitten durch die riesige Fabrikhalle, während die Werker einzelne Komponenten montieren und aus einem Puzzle mit vielen Tausend Teilen das angeblich beste Auto der Welt bauen.
Diese Transportschlitten sind ein Highlight in der Factory 56, die Mercedes mit dem Anlauf des neuen Flaggschiffs eröffnet hat. Für über 700 Millionen Euro haben die Schwaben damit in rund zwei Jahren die vermutlich modernste Autofabrik der Welt gebaut und dabei in jeder Disziplin der Produktion gewaltige Fortschritte gemacht. Die zumindest jetzt noch klinische reine und vor allem ungewöhnlich leise Halle bietet deshalb nicht nur eine vergleichsweise angenehme Arbeitsatmosphäre und wirkt gegenüber klassischen Fabriken wie ein Wellness-Tempel, sie ist obendrein sehr viel klimafreundlicher und effizienter und spart so in der Produktion bis zu 25 Prozent an Kosten.
Auf alle Entwicklungen eingestellt
Aber vor allem ist sie flexibler, schwärmen die Schwaben und bekommen so die Möglichkeit, auf die fast schon disruptiven Schwankungen im Markt zu reagieren. Weil heute keiner weiß, wie lange wir noch Verbrenner fahren oder wie lange der Elektro-Hype hält, ob Corona den Kfz-Absatz weiter in die Knie zwingt oder sich die Wirtschaft schneller als erwartet erholt, stehen Mercedes mit dem neuen Produktionskonzept alle Möglichkeiten offen. Deshalb kann Mercedes in der Factory 56 nicht nur alle Radstände und Motorvarianten der S-Klasse auf einer Linie bauen, den Plug-In-Hybrid inklusive, sondern im gleichen Zyklus werden die Schwaben demnächst auch die auf einer eigenen Plattform ruhende Elektrolimousine EQS montieren.
"Und wenn es sein muss, könnten wir hier mit nur wenigen Tagen Vorlauf auch A- oder C-Klassen dazwischen schieben", erläutert ein Mitarbeiter aus der Werksleitung und erteilt monatelangen Umbaupausen und starren Fließbändern eine deutliche Absage: Weil alle aufwändigen Produktionsschritte wie die Hochzeit zwischen Karosserie und Motor oder der Einbau des Cockpits auf den Roboterschlitten der sogenannten Teclines erfolgt und dort problemlos individualisiert werden kann, laufen die Förderstrecken vom jeweiligen Modell unbenommen in ihrem eigenen Takt und für die Mitarbeiter macht es keinen Unterschied, ob sie nun einen Radsatz an eine S-Klasse schrauben oder an einen GLA. Nur müssen sie dafür natürlich ins richtige Teilelager greifen.
400 autonome Förderfahrzeuge
Damit da nichts schiefgeht oder durcheinanderkommt, hat Mercedes auch den Materialfluss revolutioniert und an rund 400 autonome Förderfahrzeuge übertragen. Wie riesige Einkaufswagen folgen sie nahezu geräuschlos und ziemlich gespenstisch jedem einzelnen Auto durch die Fertigung und halten immer die passenden Komponenten bereit.
Für diese industrielle Revolution 4.0 hat Mercedes nicht nur auf der grünen Wiese in Sindelfingen eine riesige Halle aus dem Boden gestampft, die allein schon rekordverdächtig ist. Schließlich misst die längste Achse rund 800 Meter, unter dem Dach ist Platz für 30 Fußballfelder und mit dem ganzen Stahl aus der Trägerkonstruktion hätte man beinahe einen neuen Eiffelturm bauen können.
Auch die Kommunikations- und Datentechnik ist speziell: Zum weltweit ersten Mal in einem Autowerk fußt der digitale Austausch auf einem 5G-Netzwerk, das Daimler dafür eigens mit Ericson und O2 installiert hat. So lassen sich alle Mitarbeiter, alle einzelnen Fertigungsschritte und Maschinen, ja selbst die Werkzeuge miteinander vernetzen.
Klimavorgaben bereits erfüllt
Und natürlich folgt die Fabrik den strengen Klimavorgaben und nimmt das Ziel der CO2-freien Produktion bereits vorweg: Dafür sind auf dem Dach riesige Solarfelder installiert, durch Fenster in der Decke kommt so viel Licht herein, dass die Tagschicht nicht viele Lampen braucht. Und weil alle Informationen in Echtzeit online übertragen und auf Bildschirmen, Smartwatches oder Computerbrillen angezeigt werden, spart die Factory 56 allein zehn Tonnen Papier im Jahr.
Zwar schwärmt Mercedes von der Digitalisierung, doch so viel die Computer in der neuen Fabrik auch zu sagen haben: Die Factory 56 ist keine Roboter-Hochburg. Auch hier wird primär auf den Menschen gesetzt. Nicht nur, weil der selbst im Hochlohnland Deutschland womöglich billiger ist, sondern vor allem, weil der schneller umlernen kann und damit die Flexibilität erhöht. Und das ist, worauf es den Produktionsplanern in derart unsteten Zeiten am meisten ankommt.
Quelle: ntv.de, hpr/sp-x
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