Boris Johnson hat einen turbulenten September hinter sich: Der britische Premierminister musste vergangene Woche Abgeordnete seiner eigenen Partei beruhigen. Von einer Revolte war die Rede, weil Johnson vorhat, internationales Recht zu brechen. Rücksichtslos treibt er ein umstrittenes Binnenmarktgesetz voran, mit dem er eigenmächtig einen Teil des Brexit-Vertrags aushebeln könnte, den er selbst erst im Januar unterzeichnet hat.
Anlass für das Gesetz ist die Nordirland-Frage, die schon bei den Brexit-Verhandlungen das größte Problem war. Das sei letztendlich eine "Quadratur des Kreises", sagt Stefan Schieren, Großbritannien-Experte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Denn wenn Großbritannien aus der EU austritt, entsteht auf der irischen Insel zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland auf dem Papier eine neue EU-Außengrenze. Das wollen vor allem irische Nationalisten verhindern. Deshalb, und um das Karfreitagsabkommen nicht zu gefährden, hatten sich London und Brüssel auf eine Grenze in der Irischen See geeinigt, sodass Nordirland auch nach dem Brexit nach den Regeln des EU-Binnenmarktes wirtschaftet. Das aber bedeutet, dass das Vereinigte Königreich territorial gespalten wäre.
"Johnson wie auch die konservative Regierung hatten angekündigt, dass sie auf keinen Fall einen Vertrag unterzeichnen werden, in dem diese Grenze in der Irischen See liegt. Weil das bedeutet, dass Nordirland mehr oder weniger Teil der Europäischen Union bliebe", sagt Schieren. "Jetzt ist der Vertrag trotzdem unterschrieben worden, aber Johnson kassiert die Zusagen durch nationale Gesetzgebung wieder ein." Und bringt die EU damit gegen sich auf.
Keine Anzeichen einer Revolte
In einer ersten Abstimmung votierten trotz aller Bedenken 340 Abgeordnete im britischen Unterhaus für das Gesetz und schossen damit die eindringlichen Appelle frührer britischer Regierungschefs in den Wind. 263 Abgeordnete stimmten dagegen. Zahlen, die für Stefan Schieren nicht auf Gegenwind für Johnson hindeuten. "Ich sehe derzeit keinen Ansatz für eine Palastrevolte", sagt der Großbritannien-Experte.
Stefan Schieren lehrt an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Noch gelten für das Vereinigte Königreich die europäischen Regeln, auch wenn der Brexit bereits am 31. Januar vollzogen wurde. Seitdem befindet sich das Vereinigte Königreich in einer Übergangsphase, die am 31. Dezember endet. Erst danach treten die neuen Gesetze und Verträge in Kraft, die London und Brüssel verabredet haben - oder gerade aushandeln, wie im Fall des Außenhandelsvertrags, der ab 2021 den Waren- und Güterverkehr regeln soll. Aber wie will sich die britische Regierung mit der EU oder anderen Ländern einigen, wenn klar ist, dass Johnson sich nicht an die Verträge halten könnte? Zum Beispiel hat der US-demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden gewarnt: Wenn London das Karfreitagsabkommen nicht "respektiert", wird es mit ihm im Weißen Haus kein Handelsabkommen zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich geben.
Aber Stefan Schieren ist nicht überzeugt, dass die britische Glaubwürdigkeit leidet. Als Beweis führt er den Freihandelsvertrag mit Japan an im Umfang von fast 17 Milliarden Euro, den London erst Mitte September geschlossen hat. Außerdem erinnert er daran, dass Vertragsbruch in der EU keine Seltenheit ist: "Die Ungarn haben keine Flüchtlinge aufgenommen, obwohl sie von dem Europäischen Gerichtshof dazu verurteilt worden sind", sagt der Verfassungsexperte. "Wenn man es ganz nüchtern nimmt, ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen die Euro-Rettungspolitik, die EZB-Politik, nach europäischem Recht auch nicht zulässig ist. Denn über die Auslegung der Verträge entscheidet der Europäische Gerichtshof und nicht das Bundesverfassungsgericht."
Brexit übertrumpft schottische Unabhängigkeit
Die Palastrevolte, die Johnson und der Konservativen Partei angedichtet wird, ist keine. Tatsächlich scheint das rücksichtslose Vorgehen das Ansehendes britischen Premierministers bei den eigenen Wählern zu stärken. Und das ist dringend notwendig, denn Johnson hat ein gebrauchtes Jahr hinter sich:
- Die Bewältigung der Corona-Krise ist ihm misslungen, kein europäisches Land weist mehr Tote als Großbritannien auf.
- Johnson hat dem neuen Labour-Chef Keir Starmer jüngst in einer Unterhausdebatte Sympathien für die Irish Repulican Army unterstellt, also für Terroristen.
- Die konservative Tories haben in Umfragen seit Jahresanfang einen 26-Punkte-Vorsprung verspielt.
- Johnsons persönliche Beliebtheitswerte sind von 92,5 Prozent im vergangenen Dezember auf nun 24,6 Prozent abgestürzt.
- Die schottische Nationalregierung drängt auf ein neues Unabhängigkeitsreferendum, und Brexit sei Dank scheint es neuerdings eine Mehrheit für die Abspaltung zu geben.
Aber nicht einmal die Tatsache, dass Johnson als derjenige britische Premier in die Geschichte eingehen könnte, der das Vereinigte Königreich zerstört hat, dürfte den früheren Londoner Bürgermeister stören. Einen guten Ruf hat er nach etlichen Skandalen nicht mehr zu verteidigen, und Umfragen aus dem letzten Jahr zeigen: Konservativen Wählern und vor allem konservativen Parteimitgliedern ist der Brexit wichtiger ist als die Union mit Schottland. "Das ist natürlich für Johnson ein Signal, dass er nicht alles auf die Einheit mit Schottland, sondern auf die Vollendung des Brexits und das Loslösen von allen Verträgen setzen sollte", sagt Stefan Schieren. "Diesem Schritt ist er nähergekommen."
"Es geht um das soziale Wohlergehen"
Der britische Premier spielt ein riskantes Spiel. Geht sein Plan auf, muss die EU fürchten, dass Johnson das Brexit-Abkommen wirklich bricht und die Milliardenkosten, die das für beide Seiten verursacht, akzeptieren. Der einzige Ausweg wäre, dass die EU klein beigeben und einen Handelsvertrag akzeptieren muss, den die britische Regierung nach ihren Wünschen diktiert hat. Das wollen die konservativen Wähler von Johnson sehen.
Bleibt die EU aber hart, enden am 31. Dezember über Nacht alle Wirtschaftsbeziehungen. Handelsgüter und Lebensmittel müssten an den Grenzen gestoppt werden, in Supermärkten und Apotheken drohen Versorgungsengpässe, Tausende britische Dienstleistungsfirmen dürften ihre Arbeit nicht mehr in der EU anbieten, die Lebensmittel- und Spritpreise schössen nach oben. "Wenn das schiefgeht, dann geht es tatsächlich nicht nur um das wirtschaftliche, sondern um das soziale Wohlergehen. Es geht um Medikamente und um Rohstoffe", sagt Stefan Schieren. "Das ist ein Spiel mit hohem Einsatz, das kann man nicht anders sagen."
Boris Johnson und andere wichtige Tories, die diesen Kurs unterstützen, zocken mit dem Leben eben jener Menschen, die ihnen ins Amt verholfen haben. Gleichzeitig haben sie denkbar wenig zu verlieren, die nächste Wahl steht planmäßig schließlich erst 2024 an, und noch verfügt der britische Premier über eine komfortable Mehrheit: "Diese Gruppe, die Politik als Spiel sieht, das man tunlichst gewinnen sollte, wird nicht in Not und Elend leben müssen. Die kommt aus einem sozialen und ökonomischen Hintergrund, der durchaus beachtlich ist", sagt Experte Schieren. "Ich glaube grundsätzlich, dass in Großbritannien immer noch Vernunft und politische Ernsthaftigkeit gegeben sind, aber manchmal guckt man aus der Ferne schon etwas verwundert auf die Insel."
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Quelle: ntv.de
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