Taiwans Warnung beeindruckte den chinesischen Kampfpiloten nicht, als er auf die Insel zuhielt. "Sie haben die Medianlinie der Meerenge überflogen, kehren Sie sofort um", funkten die Taiwaner. Nach einem bisher geltenden Einverständnis trennt diese inoffizielle Demarkierung den taiwanesischen Luftraum vom chinesischen. Doch der chinesische Pilot wollte von diesem Prinzip nichts wissen: "Es gibt keine Medianlinie" erwiderte er schlicht.
Dieser Vorfall, über den die taiwanische "China Times" am Freitag berichtet hat, setzte den Ton für ein Wochenende, das Taiwan in Aufregung versetzt und die Krise zwischen Peking und Taipeh weiter verschärft hat. "Die Chinesen spielen ein gefährliches Spiel", sagt der Analyst J. Michael Cole vom Global Taiwan Institute. "Dass sie den Konflikt eskalieren und militärisch gegen Taiwan vorgehen wollen, ist kein komplett abseitiges Szenario." Am Dienstag warnte Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen China vor weiteren Luftmanövern. Beim Besuch eines Militärstützpunkts auf den Penghu-Inseln sagte sie, ihre Nation werde es anderen Staaten nicht gestatten, im taiwanesischen Luftraum mit Militärmanövern "anzugeben". Sie habe Vertrauen in die Entschlossenheit der Luftwaffe, den heimischen Luftraum zu schützen.
Zwar ist die Medianlinie keine völkerrechtlich anerkannte Grenze, dennoch hatten beide Seiten sie in stiller Übereinkunft lange weitgehend respektiert. Nachdem ein chinesischer Jet sie 1999 - womöglich aus Versehen - überquert hatte, kam dergleichen zwei Jahrzehnte lang nicht vor. Es schockierte Taiwan daher, als im März 2019 erstmals wieder chinesische Kampfjets in die Zone eindrangen, die Taiwan als seinen eigenen Luftraum begreift.
Chinas provokante Manöver
In diesem Jahr kam es schon mehrfach zu ähnlichen Zwischenfällen, doch sie verblassen vor den Manövern des vergangenen Wochenendes. Am Freitag und am Samstag überquerten Geschwader von 18 beziehungsweise 19 Flugzeugen der chinesischen Luftwaffe die Linie, darunter J-16-Jets und strategische Bomber vom Typ H-6. In zwei Gruppen näherten sie sich gleichzeitig dem Südwesten und dem Nordwesten der Insel - wohl ein Signal an Taiwan, dass China in einer Angriffswelle gleich mehrere Landesteile ins Visier nehmen könnte.
Die Volksrepublik betrachtet Taiwan als Teil ihres eigenen Territoriums. Es passt Peking nicht, dass Taiwans chinakritische Präsidentin Tsai Ing-wen im Januar eine zweite Amtszeit und ihre Regierung wegen ihrer kompetenten Corona-Bekämpfung an internationaler Statur gewonnen hat. "Peking versucht, das Momentum auszubremsen, das Taiwan in den vergangenen Monaten aufgebaut hat", sagt Experte Cole. In mehreren europäischen Hauptstädten wird mit engeren Beziehungen zu Taipeh geliebäugelt. Vor Kurzem besuchte eine hochrangige tschechische Delegation die Insel.
Vor allem aber investiert Taiwans wichtigster Sicherheitspartner, die USA, derzeit heftig in die Beziehungen – zweifelsohne auch deshalb, weil Präsident Donald Trump sich so als entschlossener Gegenspieler Chinas darstellen kann, eine wichtige Komponente seiner Wiederwahlstrategie. Um China Grenzen aufzuzeigen, hatte Washington im Frühsommer gleich drei Flugzeugträgerverbände in den Indopazifik entsandt. Anfang August besuchte US-Gesundheitsminister Alex Azar Taiwan. Es war der hochrangigste US-Besuch seit dem Abbruch der offiziellen bilateralen Beziehungen 1979.
USA treiben Rüstungsdeal mit Taiwan voran
Vergangene Woche haben die USA zudem nicht nur angekündigt, ihre eigene Marine erheblich auszubauen, sondern auch einen Rüstungsdeal mit Taiwan im Volumen von sieben Milliarden Dollar vorangetrieben. Zu den versprochenen Waffen gehören Medienberichten zufolge Seeminen und Drohnen, die Taiwan bei der Abwehr einer chinesischen Invasion helfen, aber auch Luft-Boden-Raketen, die weit entfernte chinesische Ziele treffen könnten.
Chinas Drohgebärden vom Wochenende habe nicht zuletzt eine Botschaft an die US-Amerikaner senden sollen, sagt Cole. Der Zeitpunkt war kaum zufällig gewählt - denn zu diesem Zeitpunkt war gleich der nächste hochrangige US-Politiker in Taiwan zu Gast: Keith Krach, Staatssekretär im US-Außenministerium, traf am Freitagabend Präsidentin Tsai zum Dinner. Nach seiner Abreise am Samstag legte sich die kriegerische Rhetorik jedoch nicht, im Gegenteil.
Ein chinesischer Außenamtssprecher erklärte, die Medianlinie habe für sein Land keine Bedeutung. Auf der Gegenseite zitierte die "Taipei Times" taiwanische Militärs, die für ihr Land "das Recht eines defensiven Erstschlags" reklamierten, sollte China angreifen.
spiegel
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