Entern bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch "auf ein feindliches Schiff dringen und es gewaltsam in Besitz nehmen" und in der Seemannssprache "in die Takelung eines Schiffes klettern".
In der deutschen Automobilindustrie vollziehen sich zurzeit Entwicklungen, auf die beides zutrifft. Dazu drei Presse-Meldungen von Anfang September, die nur scheinbar voneinander losgelöst und als Randnotizen daherkommen:
Erstens: Laut Kraftfahrzeug-Bundesamt (KBA) wiesen im August 2020 bei den Pkw-Neuzulassungen jene mit alternativen Antriebsarten zum Vorjahresmonat teils dreistellige Zuwächse auf: Die Anzahl der reinen Batterie-Elektrofahrzeuge (BEV) nahm mit 16.076 Einheiten um 222 Prozent zu (Anteil am Gesamtmarkt 6,4 Prozent, davon allein 1,1 Prozentpunkte durch Tesla). Die Zulassungen von Hybriden (hierzu zählen sowohl PHEV als auch Mild Hybrid, bei denen ein Elektomotor durch den Motor mit Energie versorgt wird, diese abspeichert und bei Bedarf wieder nutzt) stiegen zwar "nur" um 133 Prozent, waren vom Volumen her mit 46.188 Fahrzeugen (gut 18 Prozent) dreimal so häufig vertreten wie reine Batterieautos. Den größten Zuwachs aber verbuchten von diesesn Hybriden die sogenannten Plug-in-Hybride (PHEV) für sich - also Autos mit dualen Antriebssystemen (Verbrennermotor plus batteriegespeister Elektromotor), die in der KBA-Statistik auch zur Kategorie der Elektrofahrzeuge gezählt werden. Sie stellten mit 17.095 Einheiten und einem Zuwachs von knapp 448 Prozent alle anderen Antriebsarten in den Schatten. Wichtig: der PHEV-Marktanteil lag mit 6,8 Prozent abermals deutlich höher als der von reinen Elektrofahrzeugen. Der Abstand wäre sogar noch größer, wenn nicht Tesla mit einer August-Zuwachsrate von 454 Prozent aufgetrumpft hätte; gemessen an den Stückzahlen aber blieb Tesla mit 2864 Einheiten weiter erheblich hinter den Plug-in-Hybrid-Zulassungen zurück.
Zweitens: Bei Volkswagen kündigt sich auf leisen Sohlen ein spektakulärer Strategiewechsel an: Die von Konzernchef Herbert Diess verkündete alleinige Konzentration auf die E-Mobilität scheint mit einem Mal passé. Die Sportwagen-Tochter Porsche will künftig die Entwicklung synthetischer Kraftstoffe - sogenannter E-Fuels - maßgeblich vorantreiben. Laut Porsche-Entwicklungschef Michael Steiner kommt man mit der Elektromobilität allein nicht schnell genug in Sachen Umweltschutz voran. Vor allem der Welt-Altbestand von 1,6 Milliarden Verbrennerautos ist eine erdrückende CO2-Bürde. Die E-Fuel-Technologie ist laut Steiner vor allem deshalb so wichtig, weil der Verbrennungsmotor die Autowelt noch viele Jahre dominieren wird.
Drittens: Tesla-Chef und Innovations-Genie Elon Musk hat Anfang September 2020 ungewohnt ohne das übliche PR-Getöse Deutschland besucht. Dabei hat er nicht nur den Baufortschritt seiner Fabrik "in Berlin" begutachtet ("Deutschland rockt"), sondern auch viele Gespräche mit VIPs aus Politik und Wirtschaft geführt. Unter anderem soll er zu einer Stippvisite in Wolfsburg bei VW-Chef Diess und dem mächtigen Betriebsrat Bernd Osterloh vorbeigeschaut haben. Musk durfte das erste Voll-Elektroauto ID.3 von VW testen, das in allen Belangen dem Tesla Model 3 überlegen sein soll. Ob Musk beeindruckt war, ist nicht bekannt. Es gibt ein Video, das VW veröffentlicht hat. Aber weder Tesla noch VW haben zu Gesprächsinhalten Stellung bezogen.
Fügt man diese drei "Puzzle"-Meldungen zusammen, so kann sich daraus - mit professioneller Fantasie - durchaus die Vision einer Neuordnung der deutschen Automobilindustrie ergeben.
Denn Musk wird mit seiner Gigafabrik in Grünheide - ob man es will oder nicht - fester Bestandteil der deutschen Autoindustrie werden. Mit seinem Elektroauto-Projekt wird er sich "in der Takelage" des Auto-Dickschiffs Deutschland festsetzen. Nicht zuletzt, weil er nach Inbetriebnahme als ordentliches Mitglied im Verband der deutschen Automobilindustrie aufgenommen wird. Opel und Ford als Töchter ausländischer Konzerne dienen als Vorbild. Es steht außer Frage, dass es da Gesprächsbedarf mit wirkmächtigen Vertretern aus Politik und der Branche gibt. Trotzdem werden Jäger und Gejagte plötzlich als Kollegen gemeinsamen am VDA-Tisch sitzen. Willkommen im Klub, Tesla!
Darüber hinaus ergeben sich völlig neue Kooperationsmöglichkeiten für alle, an denen wohl keiner vorbeikommen wird. Denn Fakt ist, dass der Markt für Elektroautos, zumal in der Preisklasse, wie Tesla sie baut und in die alle deutschen Nobelhersteller vorstoßen wollen, begrenzt ist und bleibt. Mit mehr als 10 bis 20 Prozent Marktanteil für Elektroautos rechnen selbst Verantwortliche in der Branche nicht.
Zählt man die geplanten Kapazitäten für E-Autos in Deutschland und Frankreich zusammen, so ergeben sich Größenordnungen von rund 4 Millionen jährlich. Rein rechnerisch mag das der europäische Markt mit seinen 16 Millionen Neuwagen im Jahr aufnehmen. Sollte sich aber - wie angesichts der regionalen Ladeinfrastruktur zu befürchten ist - dieses Angebot fast gänzlich auf den deutschen Markt konzentrieren, geht die Rechnung für keinen einzigen Hersteller auf.
Für alle gibt es schlicht keinen Platz, selbst für Tesla in der Oberklasse nicht. Riesige Fehlinvestitionen drohen. Das mag für Tesla kein Problem sein, aber für die deutschen Hersteller schon.
Helmut Becker schreibt für n-tv.de eine monatliche Kolumne rund um den Automarkt. Becker war 24 Jahre Chefvolkswirt bei BMW und leitet das "Institut für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation (IWK)". Er berät Unternehmen in automobilspezifischen Fragen.
Helmut Becker schreibt für n-tv.de eine monatliche Kolumne rund um den Automarkt. Becker war 24 Jahre Chefvolkswirt bei BMW und leitet das "Institut für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation (IWK)". Er berät Unternehmen in automobilspezifischen Fragen.
Wie heißt die alte Strategieregel?: "Wenn Sie jemanden nicht schlagen können, dann schließen Sie sich ihm an." Da Tesla auf seinem Technologiefeld vorerst von den deutschen Herstellern nicht zu schlagen ist, ist es sinnvoll, den Newcomer als künftigen Teil der deutschen Autoindustrie zu integrieren und zu kooperieren. Volks- wie betriebswirtschaftlich sinnvoll - weil mit der geringsten Ressourcenverschwendung verbunden - wäre dann eine neue Arbeitsteilung in der Branche frei nach dem Motto: Jeder macht einfach das, was er am besten kann.
Im Ergebnis sähe das dann so aus: Die einen bauen reine Elektroautos (BEV) und liefern den anderen für ihr Programm die notwendige Hard- und Software für Antriebs und Batterie. Die anderen bauen weiter ihre (mit E-Fuel "gefütterten") Verbrenner und Plug-in-Hybride (PHEV) und liefern ihr überragendes Verbrenner-Know-how in allen Klassen an jene, denen es daran mangelt.
Und alle deutschen Hersteller treiben mit Hochdruck die Verbesserung der bisherigen Verbrennertechnologie auf E-Fuel Basis voran, wohl wissend, dass in Taiga und Tundra, in Savanne und Dschungel auf Jahrzehnte hinaus Automobile mit Verbrenner-Technologie unverzichtbar sind - allerdings mit einer fossil-neutralen, umweltfreundlichen E-Fuel- Befeuerung. Auch und gerade für den Altbestand.
Quelle: ntv.de
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